LWB fordert Gesundheitsversorgung ohne Diskriminierung für Gazastreifen

14. Sep. 2020
Rihab George, leitende Krankenschwester in der Ambulanz des Augusta-Victoria-Krankenhauses, behandelt eine junge Patientin. Das Krankenhaus bietet Menschen aus Palästina eine spezialisierte Behandlung an, die ihnen anderswo nicht zur Verfügung steht. Foto: LWB/Albin Hillert

Rihab George, leitende Krankenschwester in der Ambulanz des Augusta-Victoria-Krankenhauses, behandelt eine junge Patientin. Das Krankenhaus bietet Menschen aus Palästina eine spezialisierte Behandlung an, die ihnen anderswo nicht zur Verfügung steht. Foto: LWB/Albin Hillert

Ärztliche Genehmigung für das Verlassen des Gazastreifens „fast unmöglich zu bekommen“

JERUSALEM, Palästinensergebiete/GENF (LWI) – Der Lutherische Weltbund (LWB) schlägt zum wiederholten Mal Alarm aufgrund der schwierigen Gesundheitsversorgungslage der Palästinenser und Palästinenserinnen, die im Gazastreifen leben. Der LWB hat gemeinsam mit der Association of International Development Agencies (AIDA), eine Erklärung mit der Aufforderung an die örtlichen Behörden unterzeichnet, den Mechanismus zur Koordinierung der Gesundheitsversorgung schwer kranker Patienten und Patientinnen wieder in Kraft zu setzen und ihnen damit eine medizinische Behandlung auch außerhalb des Gazastreifens zu ermöglichen sowie die Lieferung von medizinischen Bedarfsartikeln an die Krankenhäuser im Gazastreifen zu verbessern.

Am 19. Mai hat die Palästinensische Autonomiebehörde jede Zusammenarbeit mit der israelischen Regierung eingestellt, nachdem Israel seine Pläne für die einseitige Annexion des Gazastreifens und einiger Gebiete im Westjordanland angekündigt hatte.

Die Aussetzung der Koordinierungsmaßnahmen zwischen den beiden Regierungsbehörden hat sich direkt auf das ärztliche Überweisungssystem ausgewirkt, von dem die im Gazastreifen lebenden Menschen abhängig sind, wenn sie eine lebensrettende und vor Ort nicht verfügbare medizinische Behandlung brauchen. Dazu gehören Krebsbehandlungen und komplexe Operationen. Drei Personen, darunter zwei Kleinkinder, sind bereits gestorben, weil sie aufgrund einer nicht erteilten Reisegenehmigung nicht rechtzeitig behandelt werden konnten.

Dramatischer Rückgang der Patientenüberweisungen

Der LWB, der das Auguste-Viktoria-Krankenhaus in Ostjerusalem leitet, hat bereits wiederholt auf die dramatische Situation besonders von Kindern hingewiesen, die ärztlich behandelt werden müssen. Das Auguste-Viktoria-Krankenhaus bietet Spezialbehandlungen bei schweren Nierenerkrankungen an und verfügt über eine Krebsstation für Kinder mit Möglichkeiten zur Strahlentherapie. Diese Einrichtungen gibt es im Gazastreifen nicht.

„Angesichts der aktuellen Situation erscheint es fast unmöglich, eine medizinisch begründete Ausreisegenehmigung aus dem Gazastreifen und Zugang zu einer Behandlung im Auguste-Viktoria-Krankenhaus zu bekommen, zumal auch die Palästinensische Autonomiebehörde die Sicherheitskooperation mit Israel ausgesetzt hat“, sagt Sieglinde Weinbrenner, LWB-Länderrepräsentantin in Jerusalem.

Dafür gibt es zwei Gründe: Erstens unterstützt die Palästinensische Autonomiebehörde diese Anträge nicht mehr. Eine Nichregierungsorganisation Ärzte für Menschenrechte hat diese Aufgabe jetzt übernommen, verfügt aber über deutlich weniger Ressourcen.

Zweitens werden von der bereits deutlich reduzierten Anzahl von Anträgen noch weniger genehmigt, als dies früher schon der Fall war. Nur etwa 30 Prozent der gestellten Anträge wurden in den vergangenen zwei Monaten positiv beschieden. Im vergangenen Jahr lag der Anteil der Genehmigungen noch bei 73 Prozent. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) berichtet, dass im Januar 2020 noch 1.641 Patienten und Patientinnen den Gazastreifen für eine medizinische Behandlung verlassen konnten. Im Juni waren es nur noch 119 – ein alarmierender Rückgang um 93 Prozent.

Labiles Gesundheitssystem

Gemeinsam mit der AIDA hat der LWB Anfang September eine Erklärung veröffentlicht und die örtlichen Behörden aufgefordert, „alle kollektiven Vergeltungsmaßnahmen“ gegen die Zivilbevölkerung im Gazastreifen zu beenden und den Mechanismus zur Koordinierung der Gesundheitsversorgung schwer kranker Patienten und Patientinnen wieder in Kraft zu setzen, damit Behandlungsmöglichkeiten außerhalb des Gazastreifens zuzulassen und die Lieferung von medizinischen Bedarfsartikeln an die Krankenhäuser im Gazastreifen zu ermöglichen.

AIDA hat die örtlichen Behörden ebenfalls nachdrücklich dazu aufgefordert, zu kooperieren und damit „die Ausbreitung von COVID-19 im Gazastreifen zu verhindern“. Die internationale Gemeinschaft „soll öffentlich bestätigen“, dass die Antwort auf COVID-19 „auf der Grundlage internationaler Menschenrechtsnormen und eines gleichberechtigten Zugangs zur Gesundheitsversorgung erfolgen muss.“

AIDA vertritt 84 Menschenrechts- und Entwicklungsorganisationen, die in den besetzten palästinensischen Gebieten und in Israel tätig sind, dazu gehören Action Against Hunger, World Vision, Oxfam, Save the Children und Amnesty International.

WHO übernimmt „vorübergehend“

Diese Maßnahmen treffen diejenigen am schlimmsten, deren Leid ohnehin am größten ist. Die Gesundheitsversorgung der Menschen im Gazastreifen war immer unzureichend, und diese Situation hat sich durch die COVID-19-Pandemie verschlechtert. Über den Landstrich wurde direkt nach Diagnose der ersten COVID-19-Fälle im Juli ein strikter Lockdown verhängt. Die WHO hat berichtet, dass die Krankenhäuser in Gaza, die eine Bevölkerung von zwei Millionen Menschen versorgen müssen, zurzeit nur eine Kapazität zur Behandlung von 350 COVID-19-Fällen haben.

Inzwischen haben die Vereinten Nationen die Initiative ergriffen. Nach einer UN-Verlautbarung wird die Weltgesundheitsorganisation über einen begrenzten Zeitraum die Ausreisegenehmigungen für Kranke aus dem Gazastreifen und ihre Begleitung zügig bearbeiten.

Die LWB-Länderrepräsentantin in Jerusalem, Sieglinde Weinbrenner, ist vorsichtig optimistisch: „Wir haben zwar jetzt eine befristete Lösung gefunden, aber die derzeitige Politik der israelischen Regierung, die Patientenmobilität einzuschränken, muss auf den Prüfstand“, sagt sie. „Es ist erforderlich, das Patientenrecht auf eine Gesundheitsversorgung entsprechend dem humanitären Völkerrecht und den Menschenrechten sicherzustellen.“