Frühere Kolleginnen und Kollegen sprechen über Anne Burghardt
TALLINN, Estland/GENF (LWI) – Das Konsistorium der Estnischen Evangelisch-Lutherischen Kirche (EELK) befindet sich in einem eleganten Gebäude aus dem 18. Jahrhundert an einem ruhigen gepflasterten Platz im Herzen der Altstadt von Tallinn. Hier arbeitete die neue Generalsekretärin des Lutherischen Weltbundes (LWB), Pfarrerin Anne Burghardt, bis sie am 1. November ihr neues Amt in Genf als Leiterin der weltweiten Kirchengemeinschaft antrat.
Zuvor war Burghardt als Leiterin der Abteilung für Entwicklung am Theologischen Institut der EELK und als Beraterin der Kirche für internationale und ökumenische Beziehungen tätig. In diesen Funktionen hat sie eng mit dem estnischen Erzbischof Urmas Viilma, dem LWB-Vizepräsidenten für die Region Mittel- und Osteuropa, und mit vielen Kolleginnen und Kollegen am Konsistorium, der Zentralverwaltung der EELK, zusammengearbeitet. Das Konsistorium ist in einem schicken Gebäude aus dem 18. Jahrhundert an einem mit Kopfsteinpflaster gepflasterten Platz gegenüber vom historischen lutherischen Dom im Stadtzentrum von Tallinn untergebracht. Unter Sowjetherrschaft war das Gebäude von den Militärbehörden enteignet und erst 1991 in den Besitz der Kirche zurückgegeben worden, als das kleine baltische Land seine Unabhängigkeit wiedererlangte.
Die Erfahrung, jahrzehntelang unter sowjetischer Herrschaft leben zu müssen, hat die Kirche, ihre Theologie und ihre Pfarrerinnen und Pfarrer nachhaltig geprägt – so auch Burghardt selbst. Eine der Kirchen, in denen sie oft den Sonntagsgottesdienst feierte, war eine Kirche in der kleinen Hafenstadt Paldiski, ein ehemaliger Militärstützpunkt, zu dem der Zutritt lange Zeit strikt verboten war, weil es das sowjetische Trainingszentrum für die Besatzungen der Atom-U-Boote war. „Wir wissen, wie man durch schwierige Zeiten manövriert; ich hoffe sehr, dass ihr diese Erfahrung in ihrer neuen Funktion zugutekommt“, sagt Kadri Põder, Sachverständige für internationale und ökumenische Beziehungen am Konsistorium in Tallinn.
Burghardt und Põder sind seit der gemeinsamen Studienzeit an der renommierten Universität Tartu im Osten des Landes gut befreundet. Später haben sie beide in Deutschland gelebt und studiert und den Kontakt auch nicht verloren, als Burghardt nach Genf zog, um ihre ersten fünf Jahre beim LWB als Studienreferentin für ökumenische Beziehungen zu arbeiten. „Meine Aufgabe ist es, zu kommunizieren, dass unsere Kirche ein Teil der größeren LWB-Kirchenfamilie ist“, sagt Põder. „Und ich glaube, Annes Wahl wird diese Verbindungen stärken und deutlicher machen. Wir sind nur eine kleine Kirche, aber es ist wichtig, sich dieser größeren Zusammenhänge bewusst zu sein und nicht davon auszugehen, dass wir uns selbst genug sind“, betont sie.
Wie alle am Konsistorium sieht auch Põder Burghardts Wahl in das Führungsamt des LWB „mit einem lachenden und einem weinenden Auge“. Erzbischof Viilma sagt, es sei „ein historischer Moment für uns, unsere Kirche und unsere Region, und auch weil sie die erste Frau im Amt der Generalsekretärin ist“. Gleichzeitig aber, so Viilma, „vermissen wir Anne, ihre Fachwissen und ihre Erfahrung jetzt schon“. Viilma betont, dass Estland auf eine achthundertjährige Geschichte Christentum im Land zurückblicke und einer der ersten Orte gewesen sei, in der die protestantische Reformation Wurzeln geschlagen hat. Schon vor mehr als einem halben Jahrhundert seien hier die ersten Frauen zu Pastorinnen ordiniert worden, erzählt er stolz, „auch wenn die Frauenordination der Region insgesamt immer noch ein wichtiges Thema ist“.
Estland gilt heute als eines des säkularsten Länder der Welt: Rund zwei Drittel der Bevölkerung fühlen sich keiner Religions- oder Glaubensgemeinschaft zugehörig. „Das negative Erbe der Sowjetzeit ist, dass die Menschen damals Angst davor hatten, in die Kirche zu gehen, weil sie damit das Risiko eingegangen wären, ihren Job zu verlieren oder nicht zum Studium zugelassen zu werden“, fasst Viilma zusammen. „Unser größtes Problem heute ist, dass die jüngeren Generationen fast nichts über den christlichen Glauben, die Kirche oder andere Weltreligionen weiß“, führt er aus. Und dennoch „sind der Standpunkt und der Einfluss unserer Kirche in der Gesellschaft wichtig und recht groß“, sagt er, „und die christliche Stimme kann durch den Estnischen Kirchenrat deutlich vernommen werden“.
„Unser Erzbischof ist im öffentlicher Raum und in den Medien sehr aktiv und präsent“, sagt auch Regina Hansen, Spezialistin für Öffentlichkeitsarbeit und Kommunikation in der Zentralverwaltung der Kirche. „Das Interesse an der Kirche wächst und die Menschen haben keine Angst mehr, wie zu Sowjetzeiten“, erklärt sie. Jeden Morgen werden im nationalen Rundfunk Morgenandachten gesendet und im staatlichen Fernsehen und bei den staatlichen Radiosendern gibt es am Sonntag spezielle Programme und zu besonderen Ereignissen Liveschaltungen. Die Kirche hat eine Website und gibt eine Wochenzeitung heraus und nach Burghardts Wahl im Juni wurde auch in der säkularen Presse über die Kirche berichtet.
„Selbst zusammengenommen repräsentieren die christlichen Kirchen in unserem Land nur eine Bevölkerungsminderheit“, sagt Põder, daher sei es „wichtig, dass sie mit einer Stimme sprechen und gemeinsam agieren“. Der estnische Kirchenrat ist eingeladen, an allen Gesetzesvorhaben mitzuarbeiten, die die Kirchen betreffen. Darüber hinaus koordiniert er die Seelsorgearbeit in den Krankenhäusern, Gefängnissen, der Polizei und den Verteidigungskräften sowie in den nationalen Medien. Neben der lutherischen Kirchen sind dort Mitglied die orthodoxen und russisch-orthodoxen Kirchen des Landes, die katholische Kirche, die methodistische Kirche, die Pfingstkirchen, die Siebenten-Tags-Adventisten, die armenische Kirche und eine charismatische Episkopalkirche. „Es ist eine bunt gemischte Familie, deren Mitglieder unterschiedlich groß sind, aber in der alle Kirchen jeweils eine Stimme haben und das Konsens-Prinzip gilt – das ist nicht immer nur einfach!“, sagt Põder.
Ihre ehemaligen Kolleginnen und Kollegen sind überzeugt, dass Burghardts umfassende Erfahrung in der Ökumene, einschließlich ihrer Rolle als Mitglied im Leitungsgremium der Konferenz Europäischer Kirchen (KEK), eine wichtige Grundlage für ihre neue Rolle als Führungsperson der weltweiten Gemeinschaft lutherischer Kirchen sein wird. „Sie arbeitet äußerst konstruktiv, sucht immer nach Lösungen und guten Gesprächspartnern, wenn es Probleme gibt“, sagt Põder. „Ich glaube, dass sie mit ihrem festen Glauben und ihrem wunderbaren Humor alle Herausforderungen meistern wird, die sich ihr stellen.“
Von LWB/P. Hitchen. Deutsche Übersetzung: Andrea Hellfritz