Welt-Mädchentag: Sorge über die Auswirkungen von COVID-19 für Mädchen
GENF (LWI) – Am diesjährigen Welt-Mädchentag will der Lutherische Weltbund (LWB) Bewusstsein schaffen für die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf Mädchen in besonders vulnerablen Bevölkerungsgruppen. Die internationale Staatengemeinschaft und Regierungen fordert der LWB dringend auf, für ihr Wohlergehen und ihren Schutz zu sorgen.
„Unsere Länderprogramme haben analysiert, dass die gestiegenen Fallzahlen von Gewalt gegen Mädchen einer der besorgniserregendsten Nebeneffekte des neuartigen Coronavirus sind. Durch die Schließung von Schulen und die Auswirkungen der Lockdowns und anderer Beschränkungen auf die wirtschaftliche Situation von vulnerablen Familien sind insbesondere Mädchen einem erhöhten Risiko ausgesetzt, ausgebeutet und missbraucht zu werden“, erklärt Chey Mattner, Einsatzleiter des LWB-Weltdienstes im Genfer Büro der Kirchengemeinschaft.
Durch seine für humanitäre Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit zuständige Abteilung, den LWB-Weltdienst, arbeitet der LWB mit Flüchtlingen, Binnenvertriebenen und schutzbedürftigen Gemeinschaften und Bevölkerungsgruppen in 25 Ländern weltweit. In Kenia, im Südsudan und Myanmar umfassen die humanitären Hilfsleistungen des LWB in Flüchtlingslagern und -siedlungen auch die Grundschulausbildung für die Kinder von Flüchtlingen und Binnenvertriebenen.
In Jordanien leistet der LWB psychosoziale Unterstützung für die Kinder von Flüchtlingen und versucht Schulen wiederaufzubauen, damit die Kinder der lokalen Gemeinschaften und die Kinder von Flüchtlingen diese besuchen können. In all diesen Ländern ist der Schutz von Kindern ein zentraler Aspekt der Programmarbeit des LWB.
Hohe Schulabbrecherquoten erwartet
Seit COVID-19 zu einer weltweiten Pandemie erklärt wurde, sind alle Schule und Bildungszentren des LWB geschlossen. In Kenia hat die Regierung Unterrichtsstunden über das Radio organisiert. Aber auch damit werden nicht alle Schülerinnen und Schüler erreicht. Joseph Mutamba, Bildungsreferent bei LWB-Kenia berichtet: „Die meisten Mädchen haben einfach keinen Zugang zu Radios, um an diesen Unterrichtsstunden teilnehmen zu können. Zudem haben viele Frauen und Mütter in den Gemeinwesen ihren Töchtern Teile der Haushaltspflichten übertragen. So müssen sie sich zum Beispiel um ihre kleineren Geschwister kümmern und haben daher wenig Zeit zum Lernen.“
Lehrkräfte in Myanmar fürchten, dass die Schließung der Schulen die Fortschritte zunichte machen könnte, die erreicht werden konnten in der Überzeugungsarbeit bei den Eltern, dass auch Mädchen zur Schule gehen sollten. „Die meisten Menschen bei uns glauben, dass Mädchen ab einem Alter von 12 oder 13 Jahren zu Hause bleiben und bei den familiären Verpflichtungen helfen sollten“, erklärt Daw Ma Saw Myint, Schuleiter einer Schule des LWB im Bundesstaat Rakhine State in Myanmar. „Ich muss immer wieder zu den Eltern nach Hause gehen und die Eltern und Brüder davon überzeugen, dass Schulbildung auch für die Mädchen wichtig ist.“
Die Tatsache, dass es keinen formellen Schulunterricht mehr gibt und sich keine Lehrerinnen und Lehrer mehr beharrlich für sie einsetzen, könnte für Mädchen wie die 13-jährige Ma Aye Nyein aus dem Bundesstaat Rakhine State in Myanmar das Ende ihrer Schullaufbahn bedeuten. Ihre Eltern waren dagegen, dass sie die Schule auch über die 5. Klasse hinaus besucht, aber konnten von einigen entschlossenen Lehrerinnen und Lehrer umgestimmt werden. Dann jedoch kam der Lockdown. Und jetzt befürchtet Aye Nyein, dass die Zusage ihrer Eltern keinen Bestand haben wird: „Ich hoffe sehr, dass ich nach COVID-19 weiter zur Schule gehen darf und dass meine Eltern es sich bis dahin nicht anders überlegen.“
Negative Bewältigungsmechanismus
Es sind aber nicht nur die traditionellen Werte und Überzeugungen, die die Bildung von Mädchen bedrohen. Wenn Menschen durch die Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus ihre Existenzgrundlagen verlieren, müssen sowohl Mädchen als auch Jungs arbeiten gehen.
Eine andere Folge ist, dass immer mehr Mädchen früh verheiratet werden. „Junge Mädchen werden verheiratet, um den Eltern etwas von dem finanziellen Druck zu nehmen“, sagt Jojanneke Spoor, leitende Referentin für Qualitätssicherung in der Programmarbeit des LWB in Jordanien, über die Situation im Flüchtlingslager in Za‘atari in Jordanien.
In den Bildungsprogrammen des LWB im Südsudan und Kenia ist die Situation ganz ähnlich, obwohl der LWB verschiedene Schutzmechanismen in seine Bildungsarbeit integriert hat. „Wir haben in den Schulen zum Beispiel Netzwerke zum Schutz der Schülerinnen und Schüler. An diese Netzwerke können sie sich wenden und um Hilfe bitten, wenn sie zum Beispiel verheiratet werden sollen“, erklärt Lokiru Yohana, LWB-Programmkoordinator für die Region Ostafrika und Beauftragter für den Schutz von Schülerinnen und Schülern. „Ohne die Möglichkeit, sich während der Unterrichtszeit einem Lehrer oder einer Lehrerin anvertrauen zu können, geht den Mädchen diese Unterstützung verloren und das obwohl sie oftmals ihr letzter Ausweg ist.“
Darüber hinaus sind viele Mädchen durch die Lockdowns und die häusliche Quarantäne einer erhöhten Gefahr des Missbrauchs und der Misshandlung zu Hause ausgesetzt. „Viele Mädchen, mit denen wir gesprochen haben, erzählen, dass sie bei sich zu Hause Misshandlung und Missbrauch ausgesetzt sind seit die strikten Maßnahmen zur Eindämmung von COVID-19 verhängt wurden“, weiß Spoor über die Situation in Jordanien zu berichten. „Die Menschen waren über einen langen Zeitraum bei sich zu Hause eingesperrt; viele Menschen haben keinerlei Einkommen mehr und die Kinder können nicht zur Schule gehen. Der Stress, den das verursacht, hat deutliche Auswirkungen auf das soziale und psychosoziale Wohlergehen der Menschen.“
Stark eingeschränkte Kontaktmöglichkeiten
Betty Lamunu, Kinderschutzbeauftragte des LWB im Südsudan, hat festgestellt, dass sich die Zahl der Teenager-Schwangerschaften und der gemeldeten Fälle von sexueller Gewalt im Vergleich zum Vorjahr verdoppelt hat. „Im Flüchtlingslager in Ajoung Thok hält sich überaus hartnäckig das Gerücht, dass man keine Kinder mehr kriegen könnte, wenn man sich mit COVID-19 angesteckt hat“, erzählt sie. Einem solchen Gerücht entgegenzuwirken ist nur sehr schwer möglich, weil der Kontakt der humanitären Helferinnen und Helfer zu den vulnerablen Bevölkerungsgruppen während des Lockdowns so stark eingeschränkt ist.
Die LWB-Länderprogramme versuchen vor allem durch ihre guten Kontakte vor Ort und über die Kontaktpersonen in den Gemeinwesen, wo sie tätig sind, die Menschen zu sensibilisieren und sich um die Mädchen zu kümmern.
In Kenia und Myanmar haben die Mitarbeitenden des LWB und ihre Partner im Bildungssektor „Hausaufgaben-Pakete“ erarbeitet. In Kenia werden diese noch persönlich verteilt, was den Lehrerinnen und Lehrern die Möglichkeit gibt, die häusliche Situation der Schülerinnen und Schüler im Blick zu behalten. Darüber hinaus organisiert der LWB in Zusammenarbeit mit einem in der Nähe des Flüchtlingslagers Kakuma in Kenia ansässigen lokalen Radiosender Fernunterricht und hat sogar Radios gekauft und diese an Mädchen und besonders hilfsbedürftige Schülerinnen und Schüler verteilt.
Forderung nach mehr Schutz
In Myanmar ist die Situation komplizierter, weil seit Monaten niemand mehr Zugang zu den Lagern für Binnenvertriebene hat. Der LWB kann dort nur durch seine lokalen Mitarbeitenden wirken, die selbst in diesen Lagern leben. „Wir stehen in ständigem Kontakt zu unseren freiwilligen Lehrkräften, leisten Unterstützung durch Einzelgespräche aus der Entfernung und fangen jetzt an, in einem Online-Format formalisiertere Auffrischungskurse anzubieten“, berichtet Jessica Gregson, Bildungskoordinatorin von LWB-Myanmar. Die Lehrkräfte werden per mobilem Geldtransfer bezahlt, aber der untersagte Zugang und Kontakt macht es schwer, den Schülerinnen du Schülern die notwendigen Bücher und Arbeitsblätter zukommen zu lassen.
Im Südsudan hat der LWB eine Demonstration geplant, um Bewusstsein für die Rechte von Mädchen zu schaffen. Am 11. Oktober, dem Welt-Mädchentag, werden sich 100 Schülerinnen aus den Flüchtlingslagern Ajoung Thok und Pamir zu jeweils zehnt treffen. Sie werden Botschaften formulieren, die dann über die lokalen Radiosender verbreitet werden sollen.
„Unsere Mitarbeitenden sind wirklich bemüht, die Auswirkungen trotz der vielen Herausforderungen, mit denen sie konfrontiert sind, so gering wie möglich zu halten“, sagt Chey Mattner, Leiter des Sachgebiets Operationen des LWB-Weltdienstes im Genfer Büro der Kirchengemeinschaft. „Aber es gibt noch so viel zu tun. Wir rufen die internationale Staatengemeinschaft und insbesondere die Regierungen der Welt auf, sicherzustellen, dass allen Mädchen die Möglichkeit gegeben wird, ihre Grundrechte auf Schutz, Bildung und die Chance auf eine selbstbestimmte Zukunft wahrzunehmen.“