Lesbos: Aus Rettungsaktionen am Strand entsteht Zentrum für Hoffnung und Heilen

14. Mai 2024

Ein britisches Ehepaar auf der griechischen Insel Lesbos gerät mitten in die Flüchtlingskrise 2015, als tausende Menschen auf der Suche nach einem sicheren Zufluchtsort und Asyl nach Europa kommen. In der zweiten Folge des Podcasts „Living as Neighbours“ erzählen sie ihre Geschichte. 

Philippa Kempson

Philippa Kempson, Mitbegründerin von „The Hope Project“ auf Lesbos. Foto: The Hope Project 

In guter Nachbarschaft zusammenleben: Philippa Kempson, Mitbegründerin von „The Hope Project“  

(LWI) – Philippa Kempson und ihre Ehemann Eric sind im Frühjahr 2000 mit ihrer kleinen Tochter von Großbritannien auf die griechische Insel Lesbos gezogen. Er war Maler und Bildhauer, sie hatte bisher in den Bereichen soziale Arbeit und Unternehmensführung gearbeitet. Sie waren auf der Suche nach einem ruhigeren Leben, aber es sollte alles anders kommen.  

Heute leiten sie das „Projekt Hoffnung“ – Englisch: The Hope Project –, das ein Musterbeispiel für die Unterstützung von Flüchtlingen und Migrantinnen und Migranten ist, die in den letzten zehn Jahren zu Zehntausenden auf der Insel angekommen sind. Anfangs versorgten sie die Menschen notdürftig mit Wasser, Nahrungsmitteln und ein paar Decken; heute umfasst ihr Engagement ein zentrales Verteilungslager, ein Kunsthandwerk- und Bastelzentrum, einen Frisör, einen Kosmetiksalon, eine Schneiderei und ein Fitnessstudio für Frauen.  

In der zweiten Folge der Podcast-Reihe „Living as Neighbours“ (in guter Nachbarschaft zusammenleben), die in diesem Monat vom Lutherischen Weltbund und dem Netzwerk „A World of Neighbours“ gestartet wurde, erzählt Philippa die Geschichte des Ehepaars.   

In der Anfangszeit auf Lesbos arbeitete Philippa als Kellnerin in Bars und Restaurants und richtete später einen kleinen Laden ein, in dem sie die Kunstwerke von Eric verkaufen wollten. 2014 beobachtete das Ehepaar von ihrem idyllischen Domizil in der Nähe vom Strand von Eftalou, das für seine warmen Heilquellen bekannt ist, wie die ersten kleinen Boote von der türkischen Küste ablegten, die hier nur sechs Kilometer entfernt ist. „Es sieht trügerisch nah aus, aber die Ägäis ist bekannt für extrem starke Strömungen und eine sich schnell verändernde Wetterlage“, sagt Philippa. „Damals waren es allerdings hauptsächlich junge Männer, die mitten in der Nacht anlandeten, so dass wir eigentlich nur ihre Hinterlassenschaften am Strand gesehen haben.“  

Im Dezember beobachtete sie eines Morgens, als sie gerade ihre Tochter in die Schule fuhr, wie ein kleines Boot am Strand anlandete und Menschen an den Strand drängten. Unter ihnen war ein kleines Mädchen in einer leuchtend roten Jacke. „Das war ein Wendepunkt“, erinnert sie sich. „Ich konnte doch nicht einfach seelenruhig mein Kind in die Schule fahren, während dort am Strand Kinder in der Kälte frieren mussten? Ich verstehe nicht, wie jemand das sehen und einfach weiterfahren kann.“ Also hielt sie an, um zu schauen, wie sie helfen könne. Kurze Zeit später kehrte sie mit Wasser, Obst und ein paar Decken aus ihrem eigenen Zuhause zurück.  

2015 habe sich der Krieg in Syrien verschärft und die Lage auf Lesbos verschlechterte sich rapide, erzählt Philippa. „Aus mehreren Booten pro Woche wurden mehrere Boote am Tag bis hin zum Höhepunkt der Krise im Oktober, als jeden Tag 12.000 Menschen kamen“. Aber Hilfe sei nicht gekommen für die Flüchtlinge, von denen viele verletzt waren oder unter Unterkühlung litten – manche hätten zwar die gefährliche Reise über das Mittelmeer überlebt, aber seien dann am Strand gestorben. Viele weitere verloren ihr Leben, weil die Boote nicht für die Mittelmeerüberquerung ausgelegt waren und sanken oder in plötzlich auftauchenden Unwettern kenterten. Jahrelang konnte Philippa nicht im Mittelmeer schwimmen gehen, weil sie so traumatisiert war von vielen Tragödien, die sie dort Monat für Monat mitanschauen musste.  

Würde, Hoffnung und Selbstwertgefühl  

„Den Menschen auf den ersten Booten“, erzählt sie weiter, „haben wir wenig bringen können, wir hatten selbst nicht viel übrig.“ Wenn sie aber anderen Menschen von der Not der Flüchtlinge erzählte, hätten viele Touristen Geld oder ihre Kleidung da gelassen, ortsansässige Menschen hätten in der Apotheke Spenden hinterlassen, damit sie Verbandszeug kaufen konnte, und Supermärkte hätten begonnen, das Brot vom Vortag und andere Lebensmittel zu spenden. „Häufig hatten wir aber auch nur eine Umarmung, ein Lächeln, einen Willkommensgruß, einen Händedruck für die Menschen“, berichtet Philippa. „Eine Beruhigung war jedoch oftmals mehr wert als Nahrungsmittel.“  

Im Laufe der Zeit wurde ihr klar, dass es dringend einen Ort brauchte, an dem die Überlebenden einer so traumatischen Reise zur Ruhe kommen und ein Gefühl von Würde wiedererlangen konnten. Zusammen mit Flüchtlingen, die sich ehrenamtlich engagieren wollten, hoben sie und Eric 2017 in Moria das „Projekt Hoffnung“ aus der Wiege, um den Neuankömmlingen auf der Insel genau eine solche sichere Oase zu bieten. In dem Zentrum gibt es Kunstkurse, Musik-, Tanz- und Yoga-Angebote, und die Menschen können saubere Kleidung, Hygieneprodukte und andere grundlegende Dinge des alltäglichen Lebens für Erwachsene und Kinder bekommen.  

Mit der Zeit wurden ein Kosmetikstudio, ein Frisör und eine Schneiderei hinzugefügt, um den Menschen, die bei der Flucht aus ihrer kriegsgebeutelten Heimat alles verloren hatten, zu helfen, ihre Würde und ein Selbstwertgefühl wiederzuerlangen. „Wir sind keine Psychologie-Fachleute, aber wenn Menschen das Gefühl haben, dass ihr Leben einen Sinn hat, und sie sich nicht nur als Flüchtlinge sehen, sondern als Künstlerinnen und Künstler, Musikerinnen und Musiker, Schneiderinnen und Schneider oder Köchinnen und Köche, ist das ein großer Schritt hin zu psychischer Gesundheit“, erklärt Philippa.  

Der emotionale Preis für Philippa und ihre Familie sei sehr groß gewesen, gibt sie zu. „Ich habe es satt, tote Kinder am Strand zu sehen, ich habe es satt, Menschen kennenzulernen, die andere ausnutzen“, sagt sie. Nach Morddrohungen von Menschen, die etwas gegen ihr Engagement haben, hat sie schweren Herzens beschlossen, ihre Tochter von der Insel wegzuschicken. Aber es ist ihr wichtig zu betonen: „Es ist bisher eine unglaublich bereichernde Erfahrung für mich gewesen und ich habe einige großartige Menschen kennengelernt. Wir haben versucht, aus unserem Projekt ein Gemeinschaftsprojekt zu machen, alle Menschen hier einzubeziehen, denn wenn wir ein Umfeld schaffen, in dem sich Menschen begegnen und miteinander ins Gespräch kommen können, verändern sich die Erfahrungen.“ 

Die Podcast-Reihe „Living as Neighbours“ ist eine gemeinsame Initiative vom Lutherischen Weltbund und dem Netzwerk „A World of Neighbours“, das Menschen unterstützt, die Migrantinnen und Migranten und Flüchtlingen auf dem europäischen Kontinent helfen. Über die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit unterstützt auch die deutsche Bundesregierung das Projekt. In allen acht Folgen geht es um ganz gewöhnliche Menschen, die Außergewöhnliches leisten, um den vulnerabelsten Menschen zu helfen, die an den abgelegensten Grenzen Europas gestrandet sind. 

LWF/P. Hitchen