Living as Neighbours: Marianna, Anthropologin, Psychologin und Mitglied des sozialen Netzwerks Grupa Granica
(LWI) – Der Bialowieza-Nationalpark an der Grenze zwischen Polen und Belarus gehört zum UNESCO-Welterbe und ist eines der letzten verbliebenen Teile eines riesigen Urwalds, der sich einst fast über den gesamten europäischen Kontinent erstreckt hat. Im Jahre 2018 ist Marianna, ausgebildete Psychologin und Anthropologin, mit ihrem Ehemann und zwei Kindern auf der „Suche nach einem beschaulichen und einfachen Leben“ von Warschau hierhergezogen.
In den ersten drei Jahren konnten sie diesen Traum verwirklichen, Gemüse anbauen, Hühner züchten und im Wald Pilze und Beeren suchen. Die Kinder gingen in einem nahe gelegenen Dorf zur Schule, während die Eltern Gelegenheitsarbeiten für Menschen in der Nachbarschaft übernahmen und viele neue Freundschaften schlossen. Im Jahre 2021 änderte sich jedoch alles, als Menschen, die in Europa Asyl suchten, in großer Zahl in dieses Gebiet kamen. Viele von ihnen waren nach ihrer Ankunft in der Hauptstadt Minsk hierher zur Grenze transportiert worden.
Plötzlich verwandelte sich dieses friedliche Paradies in eine militarisierte Zone, aus der der polnische Grenzschutz die Migrierten und Geflüchteten zurück über die Grenze trieb. Mariannas Arbeit bestand auf einmal hauptsächlich darin, Menschenleben zu retten und diejenigen Schutzsuchenden zu unterstützen, denen selbst die grundlegendsten Menschenrechte verweigert wurden. Ihre Geschichte erzählt sie in Folge 7 des Podcasts „Living as Neighbours“, der vom Lutherischen Weltbund und A World of Neighbours produziert wird.
Pushbacks über die Grenze
„Die Menschen sind zunächst in den Dörfern angekommen“, berichtet Marianna. Sie waren mit gefälschten Visa nach Minsk geflogen, und man hatte ihnen erzählt, dass sie in Europa sicher seien. Sie wussten nicht, dass der polnische Grenzschutz versuchen würde, sie einzufangen. Da immer mehr Menschen kamen, instruierten die polnischen Behörden den Grenzschutz, sie wieder über die Grenzen zurück nach Belarus zu drängen, und wiesen die Bewohner und Bewohnerinnen der Grenzregion an, die Polizei direkt über Neuankömmlinge zu informieren. „Es wurde uns gesagt, es sei illegal, diesen Menschen zu helfen, dass sie Terroristen, Vergewaltiger und Diebe seien“, sagt Marianna.
Im Sommer 2021 erreichten diese Geschichten eine hohe Medienpräsenz, und viele Freiwillige und Nichtregierungsorganisationen erschienen vor Ort, um die humanitäre Hilfe zu koordinieren und diejenigen Menschen zu unterstützen, die sich in den Wäldern versteckten. Zu den Ersthelfern und Ersthelferinnen gehörten Mitglieder der Grupa Granica, einer Basisbewegung, die als Antwort auf die Krise im Grenzgebiet gegründet worden war. Da ihre Kinder in die Ferien gefahren waren, konnte Marianna den Freiwilligen einen Schlafplatz im Haus anbieten oder sie im Garten zelten lassen, sie bekochen und ihnen dabei helfen, Notfallpakete für die Geflüchteten zu packen.
„Zuerst waren wir nicht allzu engagiert“, erinnert sie sich. „Um diese Rettungsarbeit leisten zu können, muss man seine eigenen Rechte und die Rechte der Geflüchteten kennen, aber die kannte ich nicht, und deswegen habe ich die Menschen unterstützt, die diese Hilfe geleistet haben“, sagt sie. Allerdings hat die polnische Regierung dann in der Nähe der Grenze ein Sperrgebiet mit Grenzkontrollpunkten der Polizei eingerichtet, um die Menschen am Zugang zu diesem Bereich zu hindern. „Sie haben uns gesagt, dies sei zum Schutz der Einheimischen, aber damit sollten Aktivistengruppen und die Presse daran gehindert werden, Zeugen dieser Pushbacks zu werden und über sie zu berichten.
Tragödien und Erfolgsgeschichten
Als eine „Frau mittleren Alters mit Kindern“, sagt sie, habe die Polizei keinen Verdacht geschöpft, als sie sich in der Sperrzone bewegt habe. Sie begann, Arbeiten zu übernehmen, die andere nicht ausführen konnten, und Pakete mit Lebensmitteln, Wasser, Kleidung und anderen Hilfsgütern zu packen und sie an Familien zu verteilen, die sich in den Sümpfen und dicht bewaldeten Gebieten versteckten. Ihre fünf Jahre alte Tochter und ihr elf Jahre alter Sohn halfen ihr manchmal bei der Zusammenstellung der Pakete.
„Meiner Tochter war im Kindergarten erzählt worden, dass die Soldaten die Menschen vor den gefährlichen Geflüchteten beschützten“, erinnert sich Marianna. „Ich habe eine Freundin eingeladen, ein ganz reizendes irakisches Mädchen, zu uns zu kommen und mit meiner Tochter zu spielen“, damit sie erkennen konnte, dass man die Kinder angelogen hatte. Aber Marianna sorgte sich auch um ihren Sohn, „weil er ansehen und anhören musste“, wie Menschen geschlagen und mit Gewalt wieder über die Grenze zurückgedrängt wurden. „Wenn man selbst eine stark engagierte Aktivistin ist, kann man seinen Kindern unmöglich verbieten, einem nachzueifern“, erinnert sie sich.
Sie berichtet über tragische Ereignisse, als zum Beispiel ein kleines Mädchen auf der einen Seite der Grenze bitterlich weinte und sie ihr nicht helfen konnte, da sie wusste, dass sie verhaftet werden könnte und man sie „verschwinden“ lassen würde, wenn sie die Grenze nach Belarus überschreiten würde. Sie berichtete aber auch über Erfolgsgeschichten und über wiedergefundene Kinder im Wald, die unter Thermodecken versteckt wurden, damit sie von den Polizeihubschraubern nicht entdeckt werden konnten, und die wieder zu ihren Eltern zurückgebracht werden konnten.
Vielleicht finden Sie durch die Unterstützung von Schutzsuchenden Ihren eigenen Platz im Leben.
Marianna, Mitglied des sozialen Netzwerks Grupa Granica
„Ich habe zu vielen dieser Menschen nach wie vor Kontakt“, sagt sie, und denkt über ihre und die Zukunft ihrer Familie nach. „Mein Mann sagt, dass es für unsere Kinder in Polen keine Zukunft gebe. Ich weiß, dass ich das, was ich mache, gut mache, und ich glaube, dass ich die Fähigkeiten, die ich hier gelernt habe, auch für andere gute Taten einsetzen kann.“
Da die Kontrollen an der Grenze immer weiter verschärft worden sind, ist die Zahl der Geflüchteten in der Region zurückgegangen. Aber Marianna glaubt, dass es immer wieder Menschen geben wird, die den gefährlichen Weg durch die Wälder auf sich nehmen, und die Hilfe brauchen. „Dies war die wichtigste Erfahrung meines Lebens, und ich kann das nur allen Menschen empfehlen“, sagt sie. „Sie treffen so viele wundervolle Menschen, und vielleicht finden Sie durch die Unterstützung von Schutzsuchenden Ihren eigenen Platz im Leben.“
Der Podcast „Living as Neighbours“ ist eine gemeinsame Initiative des Lutherischen Weltbundes und des Netzwerks „A World of Neighbours“, das Menschen unterstützt, die Migranten und Flüchtlingen auf dem gesamten europäischen Kontinent helfen. Das Projekt wird von der deutschen Regierung über die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit unterstützt. In jeder der acht Episoden geht es um ganz normale Menschen, die Außergewöhnliches leisten, um den am meisten gefährdeten Menschen zu helfen, die an einigen der entlegensten Grenzen Europas gestrandet sind.