LWB-Generalsekretär: Dialog und partnerschaftliches Verhalten aufrechterhalten
GENF, Schweiz (LWI) – Der Generalsekretär des Lutherischen Weltbundes (LWB), Martin Junge, spricht im folgenden Interview über seine „tiefe Beunruhigung über die derzeitige Erosion des öffentlichen Diskurses“ in der schwedischen Gesellschaft. Zuvor hatte das Oberhaupt der Schwedischen Kirche, Erzbischöfin Antje Jackelén, bekannt gegeben, dass sie sich aufgrund der „Bedrohungen und des Hasses und der Lügen“, denen sie jüngst in den sozialen Medien ausgesetzt war, eine Auszeit von Twitter nehmen wolle.
Die Erzbischöfin, die auch LWB-Vizepräsidentin für die Region Nordische Länder ist, hatte sich nach beleidigenden Reaktionen und Beschimpfungen zu diesem Schritt entschieden. Sie hatte sich zu den Voraussetzungen geäußert, die Einwanderinnen und Einwanderer erfüllen müssen, um die schwedische Staatsbürgerschaft zu beantragen. In Schweden wird aktuell eine hitzige Debatte über einen Vorschlag der Regierung geführt, der alle Bewerberinnen und Bewerber um die schwedische Staatsbürgerschaft zu einem Test über schriftliche und mündliche Kenntnisse der schwedischen Sprache verpflichten würde.
Junge sagt, er sei über diese „verabscheuungswürdigen verbalen Angriffe“ auf den Twitter-Account der Erzbischöfin „entsetzt und erschüttert“. Im Interview erläutert er die Gründe für seine Beunruhigung.
Warum ist es Ihnen so wichtig, über dieses Thema zu sprechen, das, so würden einige sagen, eine innere Angelegenheit Schwedens ist?
Ich bin so sehr beunruhigt, weil die Geschichte uns immer wieder gelehrt hat, dass Gewalt folgen wird, wo sich Hassrede verbreitet. Als Jugendlicher habe ich genau das zum Beispiel in meinem Heimatland Chile erlebt. Wir sehen es auch aktuell in vielen Ländern weltweit und in Europa. Hassrede stigmatisiert Einzelpersonen und Gruppen aufgrund ihrer politischen oder religiösen Überzeugungen, ihrer Herkunft, ihres Geschlechts oder ihrer Hautfarbe. Es lässt die Gesellschaft ihren kollektiven moralischen Kompass verlieren und führt schließlich zum Zusammenbruch der Demokratie.
Ich bin zutiefst beunruhigt über die derzeitige Erosion des öffentlichen Diskurses und der öffentlichen Debatte in der schwedischen Gesellschaft. Hassrede entfesselt Dämonen wie Gewalt, Unterdrückung und die Entmenschlichung Anderer. Sie hinterlässt immer Zerstörung, und ich rufe die Menschen überall auf der Welt und auch in Schweden dringend auf: Schlagt diesen Weg nicht ein!
Schweden ist traditionell ein sicherer Zufluchtsort für Flüchtlinge gewesen und die Kirche war sehr engagiert, Gastfreundschaft zu zeigen und die Asylsuchenden zu unterstützen. Warum verändert sich die Einstellung in Bezug auf Immigration Ihrer Ansicht nach im Moment?
Ganz genau. Die Schwedische Kirche war in den turbulenten Zeiten nach dem Zweiten Weltkrieg, der unzählige Menschen zu Flüchtlingen gemacht hatte, eines der Gründungsmitglieder des LWB. Ich bin unseren Vorfahrinnen und Vorfahren, die damals in Lund zusammengekommen sind und es für notwendig erachteten, Strukturen zu schaffen, um effektiv auf die Krise reagieren zu können, unendlich dankbar. Eine der ersten Entscheidungen des LWB, die auf dieser Gründungsvollversammlung getroffen wurde und die in den fest verankerten spirituellen Überzeugungen der Anwesenden wurzelte, war, dass es Ausdruck unseres Glaubens ist, unsere Nächsten zu lieben.
Heute dient der LWB – und damit die Schwedische Kirche als aktives Mitglied unserer weltweiten Gemeinschaft – rund drei Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen weltweit. Auch wenn die meisten von ihnen heute nicht mehr aus Europa stammen und viele von ihnen keine Christinnen und Christen sind, sind sie trotzdem Flüchtlinge und wir dienen ihnen weiterhin, weil wir immer noch Christinnen und Christen sind.
Die Genfer Flüchtlingskonvention hat ein gemeinsames Verständnis der internationalen Staatengemeinschaft etabliert und festgeschrieben, welche Rechte Flüchtlinge haben und dass Staaten verpflichtet sind, sie zu schützen. Die Konvention hat Flüchtlinge damals nach dem Zweiten Weltkrieg geschützt und sie schützt sie auch heute noch. Mit zunehmender Sorge beobachte ich jedoch, dass die Genfer Flüchtlingskonvention immer wieder zur Seite geschoben und von Gesetzen und praktischen Vorgehensweisen untergraben wird, die nicht mit den Verpflichtungen zusammenpassen, die sich eigentlich aus der Konvention ergeben. Wir erleben eine Krise der Verantwortlichkeit.
Wie können wir am besten auf diese Krise reagieren?
Wir leben zusammen mit vielen Menschen in dieser Welt. Weil wir durch unsere zunehmend globalisierte Gesellschaft einander immer näherkommen, wird uns das „Anderssein“ der Menschen aus anderen Ländern und Kulturkreisen deutlicher bewusst. Und einige Aspekte dieses „Andersseins“ verunsichern uns oder stellen gar tiefste Überzeugungen in Frage – seien es individuelle oder kollektive Überzeugungen. Das kann Angst machen und zu einer Verhärtung von Haltungen und Einstellungen führen – genau das, was wir derzeit beobachten können.
Die Bibel fordert uns ausdrücklich und klar zur Nächstenliebe auf. Die Aufgabe, vor der wir heute stehen, ist, zu lernen, wie wir gute Nächste füreinander sein oder werden können. Wie wir unsere Unterschiede verhandeln und gemeinsam definieren können, was wir als kollektiven öffentlichen Raum mit einem ihm innewohnenden demokratischen Gefüge verstehen wollen.
Dabei können wir viel von den LWB-Mitgliedskirchen lernen, die in einem oftmals äußerst säkular geprägten Kontext oder in Kontexten, in denen die Bevölkerung mehrheitlich anderen christlichen Konfessionen oder anderen Religionsgemeinschaften angehören, als Minderheiten leben. Interreligiöser Dialog und interreligiöse Zusammenarbeit sind für sie Elemente ihres alltäglichen Lebens. Als Lutheranerinnen und Lutheraner werden wir immer für den Dialog als verantwortungsbewusstes Mittel eintreten, um den öffentlichen Raum zu gestalten. Ich begrüße die Art und Weise, wie sich viele Kirchen in Europa – einschließlich der Schwedischen Kirche durch ihr Projekt „En värld av grannar“ (Eine Welt von Nächsten) – aktiv für diesen Arbeitsansatz stark machen und darum bemüht sind, die Gemeinwesen auf konstruktive Art und Weise zu gestalten.
Und was sagen Sie denen, die der Meinung sind, dass ein solcher Dialog naiv ist und die Grundlage unseres christlichen Glaubens untergräbt?
Dazu möchte ich deutlich sagen: Interreligiöser Dialog hat nichts mit Synkretismus zu tun oder damit, die fest verwurzelten Grundlagen unseres Glaubens zu verraten. Vielmehr ist es genau andersherum: Wenn die Kirche sich im Dialog engagiert, tritt sie in Jesu Fußtapfen, der, so können wir in der Bibel lesen, ja immerzu mit „den anderen“ gesprochen, zusammengesessen und gegessen hat. Was einige als großen Skandal empfanden, war für Jesus selbst eine glaubenstreue Art und Weise, den Willen Gottes für die Welt zum Ausdruck zu bringen: dass alle ein Leben und volle Genüge haben mögen. Es besteht also kein Zweifel: Eine Kirche, die sich im Dialog engagiert, ist eine Kirche, die Christus treu ist.
Für uns Lutheranerinnen und Lutheraner weltweit und für uns als weltweite Gemeinschaft von 148 Kirchen ist ein solcher Dialog niemals naiv und er findet nicht mit extremistischen Ausdrucksformen statt – egal ob diese säkular, ökumenisch oder religionsübergreifend sind. Extremismus lehnt per definitionem jegliche Vorstellung eines öffentlichen Raumes ab, der inklusiv, tolerant und demokratisch ist.
Aber wahrer Dialog will Isolation aufbrechen und jene unterstützen, die sich für einen Mittelweg des Gemäßigten und der Nichtausgrenzung einsetzen. Wir dürfen niemals zulassen, dass Hassrede unser Zugehörigkeits- und Zusammengehörigkeitsgefühl untergräbt oder unsere Fähigkeit, konstruktiv miteinander zu kommunizieren.
Wie kann man Hassrede am effektivsten begegnen?
Wir leben in schwierigen Zeiten; die Pandemie sorgt für zusätzlichen Stress und zusätzliche Angst in Gemeinwesen, die sowieso schon mit tiefschürfenden existenziellen Fragen ringen. Die Themen sind oftmals sehr komplex und sie verunsichern. Wir müssen uns gegen eine zu starke Vereinfachung wehren, wenn wir uns den aktuellen Herausforderungen stellen. Wenn Gott gewollt hätte, dass alles immer schwarz oder weiß ist, hätte er die Welt in schwarz-weiß geschaffen. Aber: Die Welt ist bunt. Es gibt so viele Farben; und Gott sah, dass es gut war.
Die lutherische Theologie lehrt uns, Menschen und Gemeinschaften nicht die Label „gut“ und „böse“ aufzudrücken. Sondern sie konfrontiert uns mit der schwierigen, aber hilfreichen Wahrheit, dass Gut und Böse in einem jeden und einer jeden von uns, in jedem Gemeinwesen und in jeder Gesellschaft zu finden ist. Das ist wahrscheinlich der vielversprechendste Ansatz für einen wahren Dialog mit unseren Nächsten.
Wir müssen uns Hassrede entgegenstellen, weil sie Gewalt fördert und „den anderen“ verteufelt. Und das ist eine Verantwortung, die uns allen obliegt. Die gesamte Gesellschaft definiert, wie der öffentliche Raum aussehen soll, und somit, wie die Menschen zusammenleben wollen.
Als LWB werden wir uns weiterhin für Dialog und Zusammenarbeit einsetzen. Wir werden weiterhin auch öffentlich unsere Sorgen zum Ausdruck bringen, wenn der öffentliche Diskurs oder der öffentliche Raum erodiert, weil wir wissen, dass Hassrede destruktivem Verhalten und Handeln Tür und Tor öffnet. Wir werden uns weiterhin für einen öffentlichen Raum einsetzen, der offen ist für alle, in dem niemand zum Schweigen gebracht, gemobbt oder hinausgedrängt wird. Und wir werden das aus unseren tiefsten Glaubensüberzeugungen heraus tun und uns darauf konzentrieren, was Gott für diese Welt will; wir werden so gut wir können einen Beitrag dazu leisten, dass diese Vision unseren Alltag und unsere Lebensrealitäten verändert.