Im Interview: Einar Tjelle von der Norwegischen Kirche
OSLO, Norwegen/GENF (LWI) – Das gemeinsame Engagement für die Bewahrung der Schöpfung tage nicht nur Früchte bei der Ernte, sondern auch bei Friedensbemühungen, ist Pfarrer Einar Tjelle überzeugt. Tjelle ist Leiter der Abteilung für Ökumene und Interreligiösen Dialog bei der Norwegischen Kirche und darüber hinaus Leiter des Interreligiösen Klimanetzwerks Norwegen. Im Rahmen der diesjährigen Zeit der Schöpfung berichtet er über die Advocacy-Arbeit seiner Kirche für Klima-Gerechtigkeit und Frieden auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene.
In Ihrem Beitrag zu der interdisziplinären Konferenz mit dem Titel „Sustainability and Climate in Religion“ (Nachhaltigkeit, das Klima und Religionen), die im Februar dieses Jahres in Bergen stattgefunden hat, haben Sie über eine „grüne Diapraxis“ gesprochen. Bitte erläutern Sie, was das – insbesondere im norwegischen Kontext – genau bedeutet?
Für die Bewahrung der Schöpfung und das Ringen um Klimagerechtigkeit müssen wir uns gemeinsam einsetzen. Interreligiöse und interdisziplinäre Ansätze sind hier besonders dringend notwendig. „Grüne Diapraxis“ ist das gemeinsame Engagement von ganz unterschiedlichen Parteien, die sich im Bereich Umweltschutz und Spiritualität untereinander austauschen und zusammenarbeiten – und eben gemeinsam Advocacy-Arbeit leisten.
Wenn wir uns auf das konkrete und praktische Handeln konzentrieren, kann das Türen für einen besseren Dialog zwischen den verschiedenen Religionen öffnen. Das Interreligiöse Klimanetzwerk Norwegen hat zum Beispiel an verschiedenen gemeinsamen Erklärungen und Artikeln gearbeitet, zu gemeinschaftlich konzipierten praxisorientierten Tools beigetragen und interreligiöse Pilgerwege organisiert. Außerdem ist es Projektpartner der „Kathedrale der Hoffnung“, die auf die Verschmutzung der Weltmeere durch Plastik aufmerksam macht und Hoffnungszeichen für die Ozeane setzen will.
Die Norwegische Kirche und das Interreligiöse Klimanetzwerk Norwegen haben regelmäßig an den Welt-Klimakonferenzen (COP) teilgenommen und dort Advocacy-Arbeit betrieben. Was haben Sie mit diesem Engagement erreicht – auf nationaler, aber auch auf internationaler Ebene?
Ich glaube, wir senden eine klare Botschaft, wenn wir zu diesen Konferenzen reisen und dort gemeinsam Advocacy-Arbeit leisten. Das machen außer uns nur wenige andere Delegationen. Die norwegische kirchliche Hilfsorganisation Norwegian Church Aid hat maßgeblich zur Organisation und Durchführung der afrikanischen interreligiösen Kundgebung und Demonstration während der COP17 in Durban 2011 beigetragen, die unter dem Motto „We have faith – Act now for climate justice!“ (Wir glauben daran! Jetzt für Klimagerechtigkeit handeln!) stand. Im Laufe der letzten 10 Jahre konnten immer mehr Akteure zu einem interreligiösen Engagement für die Umwelt mobilisiert werden, und es schließen sich laufend weitere Gruppen und Akteure an, die aus ihrem Glauben heraus handeln.
Ein sehr wichtiger Impuls war die Enzyklika „Laudato Si‘“ von Papst Franziskus aus dem Jahr 2015, in der er Politikerinnen und Politiker und alle Glaubenstraditionen weltweit fordert und drängt, und ermutigt. Ich glaube nicht, dass das Pariser Klimaschutzabkommen von 2015, das von allen Vertragsparteien nationale Klimabeiträge, die so genannten „Nationally Determined Contributions“ (NDCs), zur Senkung der Treibhausgasemissionen fordert, ohne die starke Stimme von religiösen Führungspersonen zustande gekommen wäre.
Die Norwegische Kirche steht in engem Kontakt mit der offiziellen Delegation, die Norwegen bei den Konferenzen zum Rahmenübereinkommen der Vereinten Nationen über Klimaänderungen (UNFCCC) vertritt. Die Beziehungen dieser Delegierten zu uns sind geprägt von großem Vertrauen. Wir erleben immer wieder, dass sie unsere Gedanken und Standpunkte hören und ihre eigenen Standpunkte anpassen.
Ein Beispiel hierfür ist, dass die norwegische Regierung ihre finanziellen Beiträge zur Eindämmung des Klimawandels erhöht hat und sich auch zunehmend für eine Entschädigung für klimabedingte Schäden und Verluste in Entwicklungsländern einsetzt.
Zudem hat die norwegische Regierung nach der Veröffentlichung eines Berichts von Norwegian Church Aid mit dem Titel „Norway‘s fair share of meeting the Paris Agreement“ (Was Norwegen fairer Weise zur Umsetzung des Pariser Klimaschutzabkommens beitragen muss) und umfassender Advocacy-Arbeit von verschiedenen NGOs und unserem Netzwerk angekündigt, die eigenen Treibhausgasemissionen bis 2030 um 50 bis 55 Prozent senken zu wollen.
Wie sensibilisieren Sie Mitglieder der Norwegischen Kirche und motivieren sie dazu, sich an diesen Bemühungen zu beteiligen?
Das ist keine einfache Aufgabe. Viele unserer Mitglieder interessieren sich nach wie vor nicht so sehr für Klimagerechtigkeit oder stehen bestimmten Aspekten unserer Bemühungen kritisch gegenüber. Aber es bewegt sich etwas. Die Stichwörter sind „einbinden“ und „einbetten“. Diakoninnen und Diakone, Pfarrerinnen und Pfarrer und Religionspädagoginnen und -pädagogen nehmen Umweltthemen und ökologische Fragen zunehmend in ihre Predigten und die Praxis auf. Rund 300 Ortsgemeinden haben sich bis heute entschlossen, „grüne Gemeinden“ zu werden und versuchen auf lokaler Ebene, sich ökologisch bewusster zu verhalten und eine „grüne Theologie“ zu praktizieren. Viele dieser Gemeinden hatten sich auch aktiv an dem Pilgerweg für das Klima beteiligt und sich damit 2015 für ein ehrgeizigeres und gerechteres Klimaabkommen von Paris eingesetzt. Konfirmandengruppen machen jedes Jahr bei unserer Fastenkampagne mit und diskutieren in diesem Rahmen über Umweltschutz und Gerechtigkeit. Auch der interreligiöse Dialog an der Basis nimmt in Norwegen zu. Aber es gibt auch immer noch viel Potenzial, die „grüne Diapraxis“ in diesen Bereichen auszubauen.
Norwegens Wohlstand speist sich in hohem Maße aus der Öl- und Gasförderung, fossilen Brennstoffen also. Gleichzeitig gilt Norwegen als Pionier im Klimaschutz. Wie verläuft die Umstellung auf erneuerbare Energien in der norwegischen Gesellschaft?
Das Thema ist der sprichwörtliche „Elefant im Raum“, über den nur ungern gesprochen wird. Es wird ausführlich darüber diskutiert, dass eine rasche Umstellung auf erneuerbare Energien notwendig ist, und dass bisher nicht genutzte Ressourcen fossiler Brennstoffe nicht weiter erschlossen werden sollen. Auch für die Norwegische Kirche ist das Thema ein sehr sensibles, denn viele unserer Mitglieder arbeiten in der Ölindustrie. Wir müssen daher umsichtig agieren. Während einige der offiziellen Erklärungen unserer Kirche klar Stellung beziehen, äußern sich einzelne Kirchenleitende sehr viel vager. Wir befinden uns da in einem Dilemma.
Unser Staatsfonds hat kürzlich alles in die Kohleindustrie investierte Geld von dort abgezogen und wird von vielen Seiten – auch von der Norwegischen Kirche – gedrängt, stufenweise immer mehr Geld in erneuerbare Energie und Wirtschaften im globalen Süden zu investieren. Eine solche Verlagerung der Investitionen ist wichtig! Und ich finde, die in der praktischen Umsetzung sehr grün geprägte Politik in Städten wie Bergen und Oslo in jüngster Vergangenheit sind wichtige Schritte. Wir haben schon viel erreicht, und die Bemühungen tragen zu umweltbewussteren und umweltfreundlicheren Einstellungen unserer Bürgerinnen und Bürger und einem entsprechenden Verhalten bei.
Die Coronavirus-Pandemie hatte und hat dramatische Auswirkungen auf Gesellschaften und Wirtschaftssysteme weltweit. Auch die Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit der Menschen und die gewohnten Möglichkeiten, öffentlich Bewusstsein zu schaffen, wurden auf vielfältige Art und Weise stark eingeschränkt. Sehen Sie das als Gefahr oder als Chance für die Advocacy-Arbeit für Klimagerechtigkeit?
Ich glaube, es ist zu früh, um das wirklich beurteilen zu können. Norwegen ist bisher nicht besonders stark von der Pandemie betroffen, aber noch ist sie ja nicht vorbei. Natürlich hoffen wir alle, dass sie bald ausgestanden sein wird, allerdings ist die Klimakrise eine noch viel größere Bedrohung – und diese ist unerbittlich und wird von Tag zu Tag gefährlicher. Die größte Sorge bereitet mir die mangelnde Aufmerksamkeit und das mangelnde finanzielle Engagement für die Bekämpfung der Klima- und Biodiversitätskrise.
Während der Pandemie sind Flugzeuge am Boden geblieben, Wildtiere sind in die Städte gekommen und der Himmel über Neu-Delhi war strahlend blau. Ich hoffe inständig, dass wir daraus etwas gelernt haben, aber ich habe leider meine Zweifel. Nach der Finanzkrise 2008 sind die Produktionsleistungen und die Umweltverschmutzung massiv gestiegen.
Ich bin überzeugt, dass Kirchen viele Möglichkeiten haben, verschiedene Aspekte von Umweltgerechtigkeit in ihre Praxis und Theologie aufzunehmen und zu integrieren. „Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan“, sagt Jesus in Matthäus 25. Heute würde er wahrscheinlich auch schutzbedürftige Tiere und die bedrohte Schöpfung mit in seine scharfe Formulierung aufnehmen. Wir wissen inzwischen, dass der Ursprung der COVID-19-Pandemie möglicherweise in einem Kontext zu suchen ist, in dem der wirtschaftliche Druck auf Wildtiere einfach zu groß ist. Die ganze Schöpfung ist von Gott gemacht und wird an der Erlösung teilhaben – siehe Römer 8,19-22.
Gemeinsam mit allen gläubigen Menschen und allen Menschen guten Willens sollten wir uns in den kommenden Jahren und Jahrzehnten noch stärker engagieren und das durch die UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung und dem Pariser Klimaschutzabkommen eingerichtete gemeinsame Rahmenwerk und die darin enthaltenen Hilfsmittel nutzen. Wir alle müssen dringend einen Beitrag leisten, um behutsam auf der Erde zu wandeln und niemanden zu vergessen und auf der Strecke zu lassen.
Die Norwegische Kirche ist der lutherischen Weltgemeinschaft stark verbunden, und gemeinsam können wir etwas bewirken!
Viele Kirchen in der ökumenischen Familie nehmen die „Zeit der Schöpfung“ (auch Schöpfungszeit genannt) wahr, die sich vom 1. September bis zum 4. Oktober, dem Fest des Heiligen Franziskus von Assisi, erstreckt. Für die lutherische Gemeinschaft ist diese liturgische Zeit des Gebets und Handelns eine Gelegenheit, das Engagement des LWB für die Bewältigung einer zentralen Krise unserer Zeit - des Klimawandels - zu bekräftigen. „Jubeljahr für die Erde“ ist 2020 das Thema für die „Zeit der Schöpfung“.
Stimmen aus der Kirchengemeinschaft:
Der Lutherische Weltbund (LWB) ist eine weltweite Gemeinschaft, deren Mitglieder sich gemeinsam für das Werk und die Liebe Christi in der Welt einsetzen. In dieser Reihe präsentieren wir Kirchenleitende und Mitarbeitende, die über aktuelle Themen sprechen und Ideen entwickeln, wie Frieden und Gerechtigkeit in der Welt geschaffen werden und die Kirchen und die Gemeinschaft in ihrem Glauben und ihrem Engagement wachsen können.
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