Hanne Wilzing berichtet über neue Nutzung eines Kirchengebäudes in Amsterdam
AMSTERDAM, Niederlande/GENF (LWB) – „Wenn Kirchen weniger besucht werden und weniger Geld erhalten, weil die Nachbarschaft sich verändert, ist man versucht, zuzumachen und sich zurückzuziehen“, sagte Hanne Wilzing, Generalsekretär der lutherischen Diakonie in Amsterdam in den Niederlanden. Doch gibt es auch Möglichkeiten, „die Schätze, die uns anvertraut wurden, umzunutzen und zu schützen“, wie die Augustanahof-Gemeinde zeigt. Es war früher ein Kirchengebäude und wurde nun in Wohnungen umgewandelt.
Die Geschichte des Augustanahofes ist eine der Geschichten aus den vier neuen Heften zum Thema Konvivenz – die Kunst und Praxis des Zusammenlebens –, die am 16. November, vom Lutherischen Weltbund (LWB) als Teil des europäischen diakonischen Prozesses veröffentlicht wurden. Wilzing, der zum ersten Heft über Konvivenz und Diakonie beitrug, spricht davon, „mit offenen Händen zu leben“, „mit Heiterkeit und Optimismus zu arbeiten“ und „in Beziehungen in der Nachbarschaft zu investieren“.
Was bedeutet „Konvivenz“ für Sie?
In den 40 Jahren, die ich nun mit der Kirche arbeite, habe ich gelernt, dass es bei Diakonie um Beziehungen geht: zwischen den Menschen, zwischen Menschen und der Erde und zwischen Menschen und dem Schöpfer.
Beim Thema Konvivenz erkenne ich diese Art des Kirche-Lebens und -Seins in unserer Nachbarschaft und Umgebung. Es ist stark verbunden mit dem lutherischen Verständnis vom Leben mit offenen Händen, um Gottes Gnade zu erhalten. Dass alle so sein können, wie sie sind und die Kraft der anderen entdecken können. Denn: wer etwas braucht, hat das Potential zu helfen. Wir sind alle Sündige und Bettler, deshalb sollten wir uns unserer Verletzlichkeit bewusst sein. Niemand sollte sich wichtiger fühlen als der Nächste. Mitten im Leiden können wir sicher sein, dass die Welt in Gottes Händen liegt. Sie ist nicht von uns abhängig. Und ich arbeite mit Fröhlichkeit und Optimismus basierend auf Luthers „fröhlichen Tausches“ der Gnade für die Sünde.
Wie kann der Konvivenz-Ansatz Teil des diakonischen Lebens der Kirche werden?
Konvivenz bedeutet, darin zu investieren, Gemeinschaften zu erschaffen, die Träger nachhaltiger Diakonie sind. Sie hilft der Kirche, sich von der Angst zu befreien, sich krampfhaft nach innen zu wenden (Apostelgeschichte 2). Diakonie hat die aufwendige Aufgabe, sich um Barmherzigkeit und Gerechtigkeit für die Schwachen zu bemühen. Das Zusammenleben kann unser Selbstverständnis und die Art und Weise verändern, wie wir unserer eigenen Verletzlichkeit und derjenigen unserer Kirche begegnen. Es wird unsere Liturgie beeinflussen.
Es kann auch eine neue Vision dafür geben, wie wir mit den Immobilien oder dem Unternehmertum der Kirche umgehen können. Die Kirchgemeinden verkleinern sich aus verschiedenen Gründen. Wie können wir in der Nachbarschaft ein neues dienendes Ziel finden und gleichzeitig die sakralen Orte Stätten behalten, wenn einige Kirchen leer bleiben? Die Frage ist nicht, wie man Konvivenz schafft, sondern wie man sie findet.
Wie wird Konvivenz im Augustanahof gestaltet?
Wenn man das Gebäude ansieht, kann man sagen, ja, wir haben einen sakralen Ort erhalten. Die ursprüngliche Augustanakirche wurde 1957 gebaut. Sie wurde von den lutherischen und den reformierten Pniël-Gemeinden im westlichen Amsterdam genutzt. Doch als die Kirchgemeinde durch eine sich verändernde Nachbarschaft kleiner wurde, gab die Kirche das Gebäude 2014 auf. Wir, die lutherische Diakonie in Amsterdam, kauften die Kirche und wollten sie in einen Ort verwandeln, wo sich die Menschen umeinander und um die Gemeinschaft in der Nachbarschaft kümmern können.
Die 16 Mietwohnungen werden von Menschen mit unterschiedlichem christlichem Hintergrund bewohnt, von Jüngeren und Älteren. Eine ist als Übergangswohnung für junge Flüchtlinge reserviert. Unsere älteste Bewohnerin ist 99 Jahre alt, und es war früher ihre Kirche. Heute lebt sie hier. Die Jüngsten sind ein Paar Mitte Zwanzig. Es gibt einen Gemeinschaftsraum, in dem sich die Bewohnerinnen und Bewohner, Diakoniemitarbeitende und Menschen aus der Nachbarschaft treffen können. Jede Woche kommen hier 40-50 Ehrenamtliche für ein gemeinsames Essen zusammen. In Zeiten von Corona haben wir dort Take-Away-Essen gekocht und auch Mahlzeiten ausgeliefert. Die Bewohnerinnen und Bewohner verpflichten sich zur sogenannten „Regel des Augustanahofes“. Dazu gehört ehrenamtliches Engagement, Andachten, monatliche Abendessen in der Gruppe und Pflege der Gemeinschaftsräume. Das ist ein Beitrag an die Stadt und die Nachbarschaft.
Man könnte viele wunderschöne Geschichten erzählen. Eine ist die eines jungen Asylsuchenden, der drei Monate lang in einer der Gästewohnungen lebte, bevor er seine eigene Unterkunft fand. In der schwierigen Zeit der Coronapandemie kam er zweimal in der Woche vorbei, um den Älteren und anderen, die Unterstützung brauchten, 200 Mahlzeiten zu bringen. Er sagte, er wolle der Kirche etwas zurückgeben. Wenn ich einen älteren Menschen sagen höre: „Ah, der Flüchtling bringt mir jede Woche eine Mahlzeit“, dann weiß ich, dass sich etwas geändert hat.
Außerdem ist es immer noch ein sakraler Ort mit einer kleinen Kapelle. Während der Pandemie war die Kapelle seit Februar jeden Tag geöffnet. Sie bietet Raum zur inneren Einkehr, um eine Kerze anzuzünden und die Stille zu genießen.
Was könnten andere LWB-Mitgliedskirchen von diesem Ansatz lernen?
Wie wichtig es ist, in Beziehungen in der Nachbarschaft zu investieren, war eine der bedeutsamsten Lehren für mich. Eine weitere Erkenntnis ist der Wert von Projekten und Programmen, die sich auf Langzeitprozesse konzentrieren, statt nur auf das Produkt, so wie diakonisches Unternehmertum mit den Immobilien der Kirche. Außerdem müssen wir Fragen, die den Menschen wichtig sind, auf die Tagesordnung setzen. Ein Beispiel ist die Liturgie: Wie sprechen wir als Kirche, wie führen wir Dialoge? Ich habe gesehen, dass es möglich ist, sichere Orte für Menschen zu schaffen, die sich wahrscheinlich ausgeschlossen fühlen – Migrierende, Flüchtlinge oder LGBTQ+ – und sich mit denen auszutauschen, die Angst vor dem Fremden haben. Und alle können dazu beitragen, ihre Schüchternheit überwinden, im Kleinen vertrauensvoll sein.
Es war ein unglaubliches Privileg, Teil der Solidaritätsgruppe des europäischen diakonischen Prozesses sein zu dürfen. Wir haben uns als Schwestern und Brüder aus verschiedenen Ländern kennengelernt, die mit den gleichen Fragen ringen. Das stärkt die einzelnen. Es hilft, über die eigene Gemeinschaft, die Stadt, das Land und die Ökumene hinauszuschauen.
Von LWB/P. Mumia. Deutsche Übersetzung: Tonello-Netzwerk, Redaktion: LWB/A. Weyermüller