Lutherische Kirche Taiwans: Ein unverzichtbares Puzzlestück

3. Jan. 2023

Zu ihrem Dienstantritt als eine der ersten Frauen in einem kirchenleitenden Amt in Asien macht sich Selma Chen Gedanken über die Herausforderungen, die es darstellt, die lutherische Identität zu vertiefen und die Beziehungen zu Taiwans mehrheitlich buddhistischer und taoistischer Bevölkerung zu verbessern.

Selma Chen ist Präsidentin der Lutherischen Kirche Taiwans (Republik China). Foto: LWB/Albin Hillert

Selma Chen ist Präsidentin der Lutherischen Kirche Taiwans (Republik China). Foto: LWB/Albin Hillert

Selma Chen über ihre Hoffnungen und die Herausforderungen als eine der ersten Frauen in kirchenleitender Position 

(LWI) – Die neue Präsidentin der Lutherische Kirche Taiwans (Republik China) (LKT), Pfarrerin Selma Chen, ging letzten Monat in die Geschichtsbücher ein, als sie ihren Posten als erste Frau an der Spitze der lutherischen Kirche in ihrem Land antrat. Im Oktober wurde sie als erste Frau in der Region Asien für eine dreijährige Amtszeit in eine kirchenleitende Position gewählt.

Als Ratsmitglied des Lutherischen Weltbunds (LWB) sieht Chen die Stärkung der lutherischen Identität und den Ausbau der Beziehungen mit der weltweiten Gemeinschaft der Kirchen neben der Verbesserung der finanziellen Tragfähigkeit der Kirche als ihre obersten Ziele an. Als weitere maßgebliche Herausforderungen für die kommenden Jahre führt sie außerdem die Verbesserung der ökumenischen Verbindungen und religionsübergreifenden Beziehungen zur mehrheitlich buddhistischen und taoistischen Bevölkerung an.

Religionsübergreifende Herkunft

Chen sagt, sie habe „das Glück gehabt, in einer christlichen Familie aufzuwachsen“, nachdem presbyterianische Missionare ihren verstorbenen Vater Anfang der 1960er in einem Armeekrankenhaus getauft hatten. „Er sah, wie diese Ärzte und das Pflegepersonal mit den Soldaten aus China umgingen, die sich manchmal recht ungehobelt benahmen, und er fragte sich, wie sie diesen Leuten gegenüber so geduldig und liebevoll sein konnten“, sagt sie. „Er sah, wie ihr Glauben ihrem Leben durch den Dienst an anderen einen Sinn gab.“

Chens Mutter kam aus „einer traditionell konservativen, buddhistischen und taoistischen Familie“. Dazu gehörte auch ein Onkel, der Schamane war, ein indigenes Glaubensoberhaupt. „Mein Vater nahm mich jeden Sonntag mit in die Kirche, doch meine Mutter, meine vier Schwestern und ich wurdern erst getauft, nachdem mein Großvater gestorben war, denn er wäre sehr unglücklich darüber gewesen“, erinnert sie sich.

Mit 12 Jahren wurde Chen die jüngste Sonntagsschullehrerin ihrer Kirche, doch damals dachte sie noch nicht daran, einmal Pfarrerin oder kirchliche Mitarbeiterin zu werden. „Ich wollte zur Armee gehen, um mitzuhelfen mein Land zu retten, denn ich war mit antikommunistischer Erziehung aufgewachsen“, sagt sie und bezieht sich dabei auf den Bürgerkrieg zwischen der kommunistischen Partei in Festlandchina und der Exilregierung der Republik China in Taiwan.

Mitglieder ihrer Kirche versuchten sie umzustimmen und drängten sie, stattdessen lieber „eine Kämpferin für Christus“ zu werden. Ohne ihr Wissen begann ein Mann vier Jahre lang jede Woche für ihre Berufung zu beten. Ein anderer gab ihr einen Vers aus Sprüche 16,9. „Als ich diese Worte las, dass des Menschen Herz sich seinen Weg erdenkt, aber der Herr allein seinen Schritt lenkt, erkannte ich, dass ich versuchte, vor dem wegzulaufen, was ich bereits im Herzen wusste“, sagt Chen.

Nach vier Jahren Seminarstudium machte Chen 1992 ihren Abschluss, in dem Jahr, in dem die LKT überlegte, ob Frauen für ein ordiniertes geistliches Amt zugelassen werden sollten. Nach einer längeren Debatte bezogen sich die Kirchenleiter auf die Kirchenverfassung und stellten fest, dass das Geschlecht darin gar nicht erwähnt wird und dass es daher keinen Grund gab, Frauen vom Pfarramt auszuschließen. Die ersten drei Pastorinnen wurden 2004, 12 Jahre nach dieser Entscheidung, ordiniert. „Ich wusste damals, dass wir eines Tages auch eine Präsidentin haben würden“, sagt Chen, „doch wir mussten warten, bis die Kirchengemeinde für diese weibliche Führungsperson bereit war.“

Während ihre Kolleginnen und Kollegen es begrüßen, dass sie dieses geistliche Amt innehat, sind die Beziehungen zu den anderen lutherischen Kirchen in Taiwan, die keine Pfarrerinnen ordinieren (darunter drei, die nicht dem LWB angehören), komplizierter. „Es gibt keine enge Zusammenarbeit mit ihnen, außer über den Verwaltungsrat des lutherischen Seminars, in dem alle sechs Kirchen vertreten sind“, erklärt Chen. Mit ein Grund dafür ist, dass jede Kirche in einem anderen Gebiet von Taiwan gegründet wurde, als sie aus Festlandchina kamen, und dass alle eine „andere Arbeit machen, eine andere Theologie und andere Traditionen“ entwickelten. 

Ein christliches Leben führen

Heute hat die LKT sechs Kirchengemeinden in ländlichen Gebieten, weitere sieben im Norden rund um die Hauptstadt Taipei und sechs im städtischen Umland im Süden der Hauptinsel. „Auch wenn wir uns nicht mehr alle im ländlichen Raum befinden, kommen doch viele unserer Leute vom Land. Sie sind keine Stadtmenschen“, bemerkt Chen. „Viele sind daran gewöhnt, dem traditionellen Mond- oder Bauernkalender zu folgen, der oft mit taoistischen Glaubensvorstellungen verbunden ist. Wir sagen ihnen, dass sie das nicht tun sollen, aber wir müssen ihn mit etwas anderem ersetzen, also haben wir angefangen, den liturgischen Kalender der Kirche zu propagieren, um ihnen dabei zu helfen, nach dem Kirchenjahr zu leben.“

Die Förderung eines tieferen Verständnisses der lutherischen Identität und wie diese durch Liebe und Dienst am Nächsten ausgelebt wird, gehört zu den Hauptschwerpunkten von Chens geistlichem Wirken. Viele Pfarrpersonen anderer Kirchen konzentrierten sich auf pietistische Bräuche und die Konvertierung anderer. „In der LKT versuchen wir den Menschen zu zeigen, wie man ein christliches Leben führt, den Tod und die Auferstehung Jesu zu verkünden. Was bedeutet das? Es bedeutet, dass unser Leben durch die Taufe verwandelt wurde, damit wir uns den Herausforderungen der heutigen Welt stellen.“

Dazu gehört auch die Förderung des Dialogs mit anderen christlichen Kirchen und die Verbesserung der Beziehungen mit Taiwans mehrheitlich buddhistischer Bevölkerung, „Das stellt eine große Herausforderung dar“, sagt Chen, „denn viele Pfarrpersonen sind nicht bereit, Kontakt mit Leuten zu pflegen, die ihrer Meinung nach nicht an Gott glauben. Einige bezeichnen diese Menschen sogar als schlecht oder unrein und fragen mich, warum ich Freundinnen und Freunde zu einem Besuch buddhistischer und taoistischer Tempel eingeladen hätte.“

Verwandlung durch Dialog

Sich zum Christentum zu bekehren kann vor allem für Jugendliche sehr schwer sein. Häufig finden sie an der Universität zum Glauben. Ihnen wird aber vielleicht gesagt, dass sie nicht mehr an traditionellen Feierlichkeiten, wie dem Mondneujahrsfest oder gar der Beerdigung von Familienmitgliedern, teilnehmen dürften, um die überlieferten Anbetungsrituale zu meiden. „Das schafft Spannungen, und es liegt noch viel Arbeit vor uns, ihnen dabei zu helfen, das Evangelium auf eine Art zu verbreiten, die nicht zu Spaltungen in den Familien führt“, sagt Chen.

Chens Interesse am Dialog stammt aus ihrer ersten Amtszeit als LWB-Ratsmitglied von 2003 bis 2010, als sie im ehemaligen Komitee für ökumenische Angelegenheit tätig war. „Ich bemerkte, wie bereichernd diese Dialoge mit Menschen aus unterschiedlichen Glaubensrichtungen für die Kirche waren, und das hat mein geistliches Wirken beeinflusst“, sagt sie.

„Als Mitglied des LKT-Exekutivausschusses brachte ich meiner Kirche immer die Neuigkeiten aus dem LWB mit, denn ich glaube, dass wir dadurch neue Ideen erhalten und verwandelt werden“, fährt sie fort. „Die meisten Menschen wissen sehr wenig über die weltweite Gemeinschaft, doch ich hoffe, dass ich den Menschen dabei helfen kann, andere Menschen im Leib Christi kennenzulernen, um dadurch dieses wundervolle Bild aufzubauen. Wir sind eine kleine Kirche in Taiwan, aber ich betrachte das als ein Puzzle, bei dem wir die einzelnen Teile gemeinsam nutzen können – selbst die allerkleinsten. Mein Ziel ist es, mehr miteinander zu teilen und die Menschen zu ermutigen, bei den LWB-Programmen mitzumachen, damit Taiwan nicht das fehlende Puzzlestück wird.“

LWB/P. Hitchen. Deutsche Übersetzung: Tonello-Netzwerk, Redaktion: LWB/A. Weyermüller