Gottes Liebe und Barmherzigkeit gilt allen

20 Jan. 2020
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Pfr. Leonardo Schindler ist Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche am La Plata (IERP). Foto: LWB/A. Danielsson

Pfr. Leonardo Schindler ist Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche am La Plata (IERP). Foto: LWB/A. Danielsson

Interview mit Leonardo Schindler, Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche am La Plata

BUENOS AIRES, Argentinien/GENF (LWI) – Seit mehr als einem Jahr ist Pfr. Leonardo Schindler Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche am La Plata (IERP), deren Gemeinden über Argentinien, Paraguay und Uruguay verstreut sind. Ihre Geschichte reicht zurück bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts, als sich Ausgewanderte aus Deutschland und der Schweiz in der Region ansiedelten.

Im folgenden Interview der Reihe „Stimmen aus der Kirchengemeinschaft“ spricht Schindler von den Herausforderungen, vor denen seine Kirche aktuell steht, sowie von dem wichtigen Beitrag, den sie zur Entwicklung einer demokratischeren Gesellschaft in Lateinamerika leisten kann.

Bitte erzählen Sie uns von Ihrer Kindheit in Argentinien und Ihrer Berufung ins ordinierte Amt.

Ich komme aus einer traditionell kirchlichen Familie und bin von klein auf in die Kindergruppe gegangen, später dann zum Konfirmationsunterricht. Danach aber habe mich von der Kirche abgewendet und war wild entschlossen, nie zurückzukehren. Etwas später hat mich ein Pfarrer eingeladen, in einer Jugendgruppe mitzuarbeiten, die in einem Viertel von Buenos Aires diakonisch aktiv war. Also bin ich doch zurückgekommen – zunächst mit wenig Begeisterung, aber der Kontakt zur Kirche war wiederhergestellt.

In diesem Stadtviertel bin ich, im Beisammensein mit den Jungs, die ich betreute, Christus auf besondere Weise begegnet. Durch die Arbeit bei der dortigen Essensausgabe ging mir auf, was ich über Jahre in der Kinderstunde und im Konfirmationsunterricht gelernt hatte. Tatsächlich habe ich mich dort entschieden, Pfarrer zu werden, mit dem Ziel, vielen weiteren Menschen ebenfalls die Begegnung mit Christus zu ermöglichen: mit seiner Lehre und seinem Engagement für das Leben der Menschen und für die Schöpfung.

Wie beschreiben Sie Ihre Kirche, die sich über drei Länder erstreckt?

Nun, der besondere Stellenwert der Evangelischen Kirche am La Plata ergibt sich daraus, dass die Gesellschaften in Paraguay, Uruguay und Argentinien sehr unterschiedlich sind, obwohl sie doch alle in derselben Region, dem Südkegel Südamerikas, liegen. In ihren Anfängen begleitete die Kirche einfach die deutschen und schweizerischen Neuankömmlinge in der Region. Inzwischen aber hat sie sich der Herausforderung gestellt, eine missionarische Kirche zu sein, eine Kirche, die das Wort Gottes verkündet.

Wir durchlaufen derzeit einen Prozess, in dem wir zu einer Kirche werden, die sich zunehmend gesellschaftlich engagiert, und die einen besonderen Beitrag zu leisten hat durch ihren spezifisch protestantischen Charakter. Ich bin überzeugt, dass wir als Evangelische viel beitragen können zum Aufbau einer demokratischeren Gesellschaft: Wir glauben an das Priestertum aller Gläubigen und unsere Machtstrukturen sind ganz und gar horizontal angelegt. Unsere Kirchen entstanden nicht aus dem hegemonischen Diskurs der Dominanz und Herrschaft, sondern durch einen Prozess kritischen Denkens und aus dem Wissen, dass Menschen umso freier werden, je mehr sie verstehen können.

Nach meiner Überzeugung haben unsere protestantischen Kirchen – unsere Evangelische Kirche am La Plata ebenso wie die anderen Mitglieder des Lutherischen Weltbundes – in Lateinamerika einen wichtigen Beitrag zum Aufbau der Gesellschaft zu leisten, denn unsere Botschaft ist eine Gnadenbotschaft. Wir leben heute in einer Gesellschaft, in der viele Menschen nach etwas suchen, das sie von dem enormen Druck befreit, dem sie sich tagtäglich ausgesetzt fühlen. Viele meinen, sie müssten sich selbst und anderen ihren Wert als Person beweisen, und glauben, je mehr sie leisten, desto mehr sind sie wert. Sie sind ganz von einem Wettbewerb in Anspruch genommen, der sie und die gesamte Gesellschaft zerstört.

Die Botschaft von der Rechtfertigung aus Gnade ist eine befreiende Botschaft, denn sie lautet: „Der Wert der einzelnen Person ist nicht in ihren Verdiensten oder Erfolgen begründet, sondern im Wert des Menschen als solchem. Ich bin überzeugt, dass wir diese Wahrheit in eine Gesellschaft hineintragen müssen, die Fanatismus und Fundamentalismus immer weiter fanatisieren und spalten. Dabei geht es nicht nur um einen religiösen, sondern auch um einen politischen Fundamentalismus, der diese Spaltungen hervorbringt. Wir als Evangelische können in einem solchen Umfeld, meiner Meinung nach, wertvolle Beiträge leisten.

 Was sind aus Ihrer Sicht in den drei besagten Ländern die größten Herausforderungen für die Kirchen?

Die größte Herausforderung liegt darin, eine Kirche zu sein, in der alle zuhause sind. Eine Kirche, in der, wie Pfarrerin Silvia Genz, die Kirchenpräsidentin der Evangelischen Kirche Lutherischen Bekenntnisses in Brasilien (IECLB), es formuliert, „…wir einander nicht mit Steinen bewerfen, sondern ein gemeinsames Haus bauen.“ Also einen Ort, an dem kein Fanatismus oder Fundamentalismus entsteht. Es geht um Gemeinden, die offen, gastfreundlich, integrativ und liebevoll sind, eben weil Gott uns allen mit Liebe und Barmherzigkeit begegnet und uns alle annimmt.

Was inspiriert Sie an Ihrer Kirche besonders?

Es gibt vielfältige Aktivitäten und wir engagieren uns entschlossen für Gerechtigkeit sowie in der Hilfe für Bedürftige. Gleichzeitig bieten wir Treffpunkte für Zusammenkünfte und feiern das Leben. Aus meiner Sicht stehen wir heute vor der gewaltigen Herausforderung, Kirchen zu sein, die auf die eine oder andere Art und Weise, in Begegnungen, aber auch durch Solidarität, dazu beitragen, ein menschlicheres Lebensumfeld zu schaffen.

Weiterhin inspirieren mich unsere Botschaft und unser Engagement in der öffentlichen Advocacy-Arbeit. Wir müssen als Kirchen in der Lage sein, gegenüber dem Staat und gegenüber der jeweiligen Regierung für die Schaffung gerechterer Gesellschaften einzutreten. Das ist meine Motivation, auch wenn manche Kirchenmitglieder diese Idee enthusiastischer mittragen als andere. Ich glaube aber, dass wir sie alle einladen können, sich mit uns gemeinsam zu engagieren.

Ich empfinde es als sehr motivierend, mich als Teil einer Einheit zu verstehen, die größer ist als unsere eigene Kirche allein. Die Möglichkeit, 2019 an meiner ersten LWB-Kirchenleitungskonferenz in Genf und Wittenberg teilzunehmen, hatte für mich insbesondere deswegen große Bedeutung, weil sie mit der Wahrnehmung einherging, Teil eines größeren Ganzen zu sein – auf der Ebene unseres Kontinents, ja sogar auf Weltebene. Ich spüre so, dass andere im Gebet mit mir vereint sind, genauso wie auch in ihrer Bereitschaft, im Rahmen dieses großen Ganzen Ressourcen miteinander zu teilen. Das ist inspirierend, aber auch eine große Herausforderung.

Was möchten Sie in den nächsten Jahren erreichen?

Ich hoffe, dass ich ein guter Kirchenpräsident werde, eine guter Leitungsperson für die Pfarrerinnen und Pfarrer in meiner Kirche. Ich hoffe, dass die Kirche sich verstehen lernt als fest eingewobenen Teil der Gesellschaft, in der sie lebt, und dass sie sich für das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit in dieser Welt einsetzt. Ich hoffe, dass wir als Kirchen in der Lage sind, mehr zusammenzuwachsen. Und auf der persönlichen Ebene würde ich natürlich gerne weiter meiner Familie genügend Zeit widmen und meine Enkelkinder aufwachsen sehen können.

 

Stimmen aus der Kirchengemeinschaft:

Der Lutherische Weltbund (LWB) ist eine weltweite Gemeinschaft, deren Mitglieder sich gemeinsam für das Werk und die Liebe Christi in der Welt einsetzen. In dieser Reihe präsentieren wir Kirchenleitende und Mitarbeitende, die über aktuelle Themen sprechen und Ideen entwickeln, wie Frieden und Gerechtigkeit in der Welt geschaffen werden und die Kirchen und die Gemeinschaft in ihrem Glauben und ihrem Engagement wachsen können.

 

LWF/OCS