„Allein die Schrift“ ist ein bekannter lutherischer Grundsatz. Beim zweiten Webinar des Bibeljahres haben zwei Fachleute darüber gesprochen, wie dieser Grundsatz bei der Bibelauslegung genutzt wird.
Ángela Trejo (Mexiko) und Jerzy Sojka (Polen) über lutherische Methodiken der Bibel-Auslegung
(LWI) – Was ist das Besondere daran, wie Menschen lutherischen Glaubens die Bibel lesen und auslegen? Welche Instrumente stehen uns zur Verfügung, damit wir die Heilige Schrift besser verstehen können? Und wie gehen wir mit schwierigen Abschnitten oder strittigen Auslegungen um, die drohen, christliche Gemeinschaften auseinanderzureißen?
Zwei führende lutherische Theologen erörterten diese tiefgreifenden Fragen im zweiten Teil einer vierteiligen Webinar-Reihe zum 500. Jahrestag von Luthers Septembertestament. Diese Bezeichnung erhielt seine bahnbrechende Übersetzung des Evangeliums, bei der er den griechischen Originaltext aus dem ersten Jahrhundert in die von den einfachen Leuten seiner Zeit gesprochene deutsche Sprache übertrug.
Der ungarisches Doktorand Szabolcs Nagy, der die Diskussion leitete, hob zu Beginn die wichtige Rolle hervor, die dem Prinzip Sola Scriptura bzw. „allein durch die Schrift“ als oberste Instanz in allen Glaubensangelegenheiten und Fragen des christlichen Lebens zukommt. Als Menschen lutherischen Glaubens, sagte er, seien wir stolz auf diese Tradition der Reformation, aber wie erklären wir jene biblischen Geschichten, die einander zu widersprechen scheinen?
Nicht nur Sola Scriptura
Der polnische Professor Jerzy Sojka von der Christlich-Theologischen Akademie in Warschau betonte, dass Sola Scriptura nicht für sich allein genommen verstanden werden dürfe. Stattdessen müsse es mit den anderen begleitenden Prinzipien Solus Christus, Sola Gratia, Sola Fide (allein durch Christus, allein durch die Gnade, allein durch den Glauben) „verbunden werden“. Nehme man alle diese Prinzipien zusammen, sagte er, und höre man dann die Verkündigung des Wortes, könne uns das „bei dem Versuch“ helfen, in unserer Bibellesung „das Wirken Christi zu entdecken“.
Ein weiteres Instrument, das uns bei dieser Aufgabe helfen könne, fuhr er fort, sei die von uns getroffene Abgrenzung zwischen dem „Pentateuch als Befundung des Menschen als Sünder“ und „dem Evangelium als die Frohe Botschaft unserer Erlösung“. Weiterhin sagte Sojka, erinnere uns Luther daran, dass es zwei Aspekte gäbe, um die Bibel richtig zu verstehen. Einen „äußeren“, für den Kenntnisse der Sprache und des historische Textkontextes erforderlich seien, aber auch einen „inneren“, der von uns verlangt, darauf zu vertrauen, dass der Heilige Geist „in unseren Herzen wirkt“.
In ähnlicher Weise spricht Luther von „zwei Königreichen, zwei Regimenten oder zwei Reichen“: einem weltlichen, in dem wir „von der Vernunft geleitet“ werden und einem geistigen, in dem das Wort Gottes uns leitet. Deshalb sei beim Lesen der Bibel Demut unerlässlich und ein Bewusstsein, dass wir Teil „einer viel umfassenderen Diskussion innerhalb der Kirche sind, nicht nur in heutiger Zeit, sondern im Verlauf der gesamten Geschichte des Christentums“. Wenn wir uns mit Texten auseinandersetzen, die uns verwirren oder die einander widersprechen, müssen wir uns bewusst sein, dass „wir in diesem Moment, vielleicht, an den verborgenen Wesenskern Gottes anrühren, der nicht vermittelt werden kann, aber dennoch Teil unserer christlichen Erfahrung“ beim Lesen der Texte ist.
Bei der Überlegung, wie man Spaltungen und Konflikte über die Auslegung der Bibel überwinden könne, sagte Sojka, sei es wichtig, sich bewusst zu machen, dass es sich bei der Auslegung um einen dynamischen Prozess handele und dass wir „nicht alle Antworten haben“. Es bräuchte Mut, „um sich mit unseren Unterschiedlichkeiten zu befassen“ und „uns selbst zu fragen, warum unser Gegenüber die Heilige Schrift auf diese Weise liest“, denn das „könnte auch uns helfen“, meinte er. Man denke nur an den Prozess der Versöhnung zwischen Lutherischem Weltbund und den Juden bzw. Mennoniten, fügte Sojka hinzu, denn dieser erinnere uns daran, dass „selbst unsere Helden der Reformation die Heilige Schrift auf die schlimmstmögliche Art und Weise einsetzen konnten, um damit den Schaden zu rechtfertigen, den sie anderen Menschen zufügten.“
Feministische biblische Hermeneutik
Auch die Direktorin des Augsburgisch-lutherischen Seminars in Mexiko und Professorin für Bibelkunde und Gendertheologie, Ángela del Consuelo Trejo Haager, ließ uns an ihren Gedanken über lutherische und feministische Bibelauslegungen teilhaben. Sie bemerkte, wie Luther die Bedeutung der biblischen Übersetzung betont habe, „die es gewöhnlichen Menschen ermöglicht hat, diese in ihrer eigenen Sprache auszulegen.“ Doch in den Anfangsjahren der Reformation, fuhr sie fort, hätten ein paar Frauen Abschnitte der Heiligen Schrift übersetzt und sich getroffen, „um die Bibel aus ihrer Perspektive zu verstehen.“
Christus im Mittelpunkt der Erzählung zu sehen, diese jedoch in Bezug auf unser Streben nach Gnade, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit zu setzen, könne uns helfen „der Bibel näher zu kommen“, sagte sie. Das lutherische Motto „Allein durch die Schrift“ sei die historische Sichtweise unserer Kirche gewesen. Es „hat uns geholfen, diese Brüche und Lücken zu finden, in anderen Schriften, in anderen Räumen zu erkennen, dass es möglich ist, andere hermeneutische Gedanken zu finden, die uns bei unseren Betrachtungen helfen können.“
Es sei wichtig, sich stets vor Augen zu halten, fuhr Trejo fort, „ja, die Bibel kann überarbeitet, umformuliert, neu gelesen und interpretiert werden, um auf verschiedene Kontexte zu antworten.“ Das mache „die Größe der lutherischen Hermeneutik“ aus, betonte sie, dass „Christus überall auferstehen und jederzeit einen Weg zur Freiheit, zur Integration, zur Versöhnung bieten kann“, in jeder Gemeinde, bei der Christus im Mittelpunkt bleibt.
Feministische biblische Hermeneutik, sagte Trejo, habe „uns viele Wege eröffnet“ und uns „die Möglichkeit geboten, die Texte aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu sehen.“ So könne uns zum Beispiel das Verständnis des „gelebten Kontextes“ einer Erzählung helfen, „die Machtstrukturen zu untersuchen, die den Frauen“ in biblischen Zeiten „geschadet haben“. Gleichzeitig, so meinte sie, ermögliche mir die Untersuchung der Texte „durch meine eigene Erfahrung, durch unsere Einsichten, eine Veränderung in meiner Umwelt und meinem Kontext einzubringen.“
Innerhalb „patriarchaler Strukturen und sexistischer Systeme“, bemerkte Trejo, sei diese Arbeit stets umstritten. Doch sie könne auch „Brücken zu anderen Interessengruppen schlagen“, Auslegungen bieten, „die inklusiv sind, die Missstände beheben, die Wunden heilen und uns gleichzeitig dazu bewegen, gerechtere und gleichberechtigtere Räume zu finden.“ Durch die Beschreibung als „ein Tanz, der uns beständig hilft, von unterschiedlichen Standpunkten aus zu denken“, beleuchte die feministische Hermeneutik die „Körperlichkeit des Evangeliums“. Sie könne Gerechtigkeit und Frieden durch „einfühlsamere Beziehungen mit anderen“ fördern.
Das nächste Webinar in dieser Reihe findet am 6. Dezember statt. Im Mittelpunkt steht das Thema „Engaging the Bible“ – „Die Bibel einbeziehen“.
Die Bibel verstehen
Webinar: Die Bibel verstehen vom 8. November 2022. Dies war das zweite von vier Webinaren zum Jahr der Bibel.
Referenten:
- Professor Dr. Jerzy Sojka
- Professorin Dr. Ángela del Consuelo Trejo Haager