COVID-19: Kriseneinsatz, wenn Abstand keine Option ist

8. Okt. 2020
Photo: LWF/P. Omagwa

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LWB-Weltdienst ist besorgt über die langfristigen Folgen der Pandemie

GENF, Schweiz (LWI) – Eine beispiellose Zusammenarbeit, Krisenresilienz und Engagement, aber auch eine enorme Herausforderung für das Personal vor Ort und für die Gemeinschaften. Das ist die Bilanz einer weltweiten Gesundheitskrise und der damit verbundenen humanitären Hilfe und Entwicklungshilfe. Ein halbes Jahr, nachdem die durch das Coronavirus verursachte Krankheit (COVID-19) zu einer Pandemie erklärt worden war, kann das Personal des Weltdienstes des Lutherischen Weltbundes (LWB) mit ihrem Not- und Entwicklungshilfeprogramm stolz darauf hinweisen, dass es diese Krise gut bewältigt hat. Gleichzeitig schaut der LWB aber auch mit Sorge auf die nächsten Jahre.

„Es hat ein hohes Maß an Zusammenarbeit und Absprachen zwischen den einzelnen UN-Agenturen, Partnerorganisationen und unseren Geldgebern gegeben“, sagt Chey Mattner, Einsatzleiter des LWB-Weltdienstes. „Diese sehr pragmatische und flexible Vorgehensweise hat uns in die Lage versetzt, unsere Programme anzupassen und schnell auf die neue Situation zu reagieren.“

Priorität: Sauberes Wasser

Der LWB-Weltdienst arbeitet mit Flüchtlingen, ihren Aufnahmegemeinschaften und besonders gefährdeten Gemeinschaften in 25 Ländern in Afrika, Asien, Lateinamerika und im Nahen Osten zusammen.  Die Wasser- und Sanitärprogramme des LWB wurden seit dem Ausbruch der Pandemie weiter ausgebaut. „Die Versorgung mit sauberem Wasser musste unbedingte Priorität haben“, sagt Mattner. Das LWB-Personal hat ebenfalls Aufklärungskampagnen über die Gefährlichkeit von COVID-19 und über richtiges Hygieneverhalten durchgeführt.

„In den Flüchtlingslagern, in denen wir arbeiten, ist das Einhalten eines Mindestabstandes für die Menschen oft nicht möglich“, so Mattner. „Wir mussten deshalb dafür sorgen, dass die Menschen die richtigen Informationen in ihrer eigenen Sprache bekamen.“ Das war besonders wichtig in den Rohingya-Vertriebenenlagern in Myanmar, aber auch in den großen Flüchtlingssiedlungen in Kenia und Uganda. Der LWB stellte auch zusätzliche Informationen für die palästinensische Bevölkerung in Ostjerusalem und den besetzten Gebieten zur Verfügung.

Lernen durch Radiosendungen

In den Flüchtlingslagern, in denen der LWB Schulen eingerichtet hat, mussten auch die Lernbedingungen der Situation angepasst werden. In Kenia, Südsudan und Myanmar wurden die Schulen im März geschlossen. Während in einigen Regionen die Schülerinnen und Schüler in den regulären Schulen Online-Unterricht oder im Radio gesendete Lernprogramme nutzen konnten, stand diese Möglichkeit vielen Flüchtlingskindern nicht zur Verfügung, da sie die technische Ausstattung nicht hatten, um von diesem Angebot zu profitieren. In den abgelegenen Camps gibt es auch oft keine Funkverbindung.

Sicherheitsbeauftragte und Lehrkräfte sind ebenfalls sehr besorgt über die Auswirkungen, die diese Situation auf Kinder und besonders Mädchen hat. „Wir stellen einen Anstieg von Schwangerschaften bei Minderjährigen, Frühehen und häuslicher Gewalt fest“, sagt Lokiru Yohana, regionaler LWB-Programmkoordinator und Anlaufstelle für den Kinderschutz. Ohne die Schutzmechanismen innerhalb der Schulen und das Tragen der Schuluniform stehe zu befürchten, dass viele Kinder Gewalt und Missbrauch schutzlos ausgeliefert seien und die Schule vorzeitig abbrechen würden.

Strategien auf Gemeinschaftsebene

Viele der Sorgen beziehen sich direkt darauf, dass Menschen ihre Existenzgrundlage verlieren. Aufgrund der Lockdowns und anderer Einschränkungen haben viele Familien kein Einkommen mehr. Der LWB hat in Jordanien und im Südsudan erlebt, dass Familien auf so genannte schädliche Überlebensstrategien zurückgreifen, dazu gehört bevorzugt die schnelle Schließung von Kinderehen, weil die Familie des Mädchens eine Mitgift erhält.

Das LWB-Personal hat finanzielle Maßnahmen und Cash for Work-Programme verstärkt, um damit Gemeinschaften in diesen schwierigen Zeiten zu unterstützen. Im Irak hat der LWB Lebensmittelpakete verteilt. „In dieser Situation profitieren wir immens von unserem auf Rechten basierenden Ansatz der Ermächtigung von Gemeinschaften“, sagt Allan Calma, Koordinator der humanitären Hilfe beim LWB. „In diesen Zeiten der eingeschränkten Freizügigkeit der Menschen ist es gut, dass wir über die Organisationen der Gemeinschaft weiterarbeiten können, an deren Aufbau wir mitgewirkt haben. Dabei hilft uns auch Aushilfspersonal (oft selbst Flüchtlinge), das den größten Teil unserer globalen Mitarbeitenden stellt. Aufgrund dieser Mechanismen konnten wir dafür sorgen, dass die überaus wichtige Unterstützung der Menschen, denen wir helfen wollen, auch während der strikten Ausgangsbeschränkungen während der COVID-19-Pandemie weitergehen kann.“

Während die zahlreichen Aushilfskräfte auf der lokalen Ebene den LWB in die Lage versetzten, Menschen direkt vor Ort zu versorgen, seien es auf der anderen Seite genau diese Menschen, die das höchste Gesundheitsrisiko eingingen, so Calma. „Sie können sich absolut frei bewegen, aber das erhöht ihr Infektionsrisiko.“ Es ist besorgt darüber, dass gemeinschaftsnahe Gruppen und andere auf Selbstorganisation beruhende Systeme im Laufe der Zeit an Effizienz verlieren, wenn sie keine zusätzliche Unterstützung bekommen.

Gestresstes Personal in unsicheren Zeiten

LWB-Sicherheitsberaterin Susan Muis macht sich Sorgen wegen der zusätzlichen Belastungen, denen die 9.000 LWB-Einsatzkräfte vor Ort durch COVID-19 ausgesetzt sind. „Niemand weiß, wie lange die Lage so angespannt bleibt. Das erhöht den Stress zusätzlich“, sagt sie. „Wir sind beunruhigt über die damit verbundenen Auswirkungen auf unsere nationalen und internationalen Einsatzkräfte. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt weiß niemand, wann wir unsere Programme wieder in gewohnter Weise durchführen können. In dieser unsicheren Situation will ein Teil unseres Personals Überstunden arbeiten. Das ist verständlich, denn diese Menschen sehen ja, dass die Bedarfslage ihre Kapazitäten, Hilfe zu leisten, oft übersteigt.“

In vielen Projektbereichen verschärft die Pandemie bereits ein operativ schwieriges Umfeld: Heuschrecken, Überschwemmungen, Erdbeben und bewaffnete Konflikte machen es noch schwieriger, die Bevölkerung besser auf die Bewältigung solcher Krisen vorzubereiten. Der Zugang zu humanitären Hilfsangeboten ist aufgrund der Ausgangsbeschränkungen und zusätzlicher Voraussetzungen für deren Inanspruchnahme schwierig. Es wurde unterstellt, dass Einsatzpersonal in einigen Regionen das Virus in die Gemeinschaften selbst eingeschleppt habe. „Hier werden Szenarien zusammenfantasiert, die uns wohl noch eine lange Zeit begleiten werden“, sagte Mattner.