Ukraine: Christus ist immer noch der gleiche

Pastor Oleksandr Gross geht in der vom Krieg gezeichneten Ukraine in festem Glauben voran, unterstützt vertriebene Familien und Kinder in schwierigen Situationen und lässt wieder Hoffnung aufkommen.  

In folgendem Interview aus der Reihe „Stimmen aus der Kirchengemeinschaft“ berichtet er, wie sich der Krieg in der Ukraine auf seine Kirche auswirkt, und spricht über Glauben in düsteren Zeiten. 

06 Dez. 2024
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Der ukrainische Pfarrer Pastor Oleksandr Gross. Foto: DELKU

Der ukrainische Pfarrer Pastor Oleksandr Gross. Foto: DELKU

Pastor Oleksandr Gross über Glauben und Gemeindeleben im Krieg  

(LWI) – Pastor Oleksandr Gross wurde im heutigen Russland geboren und ist seit 22 Jahren Pastor in Odessa. Für die Unterstützung der vom Krieg in der Ukraine betroffenen Menschen war und ist er von zentraler Bedeutung, denn er arbeitet mit internationalen Partnern zusammen, um die humanitäre Hilfe – beispielsweise in Form von medizinischen Versorgungsgütern und Unterkünften für Binnenvertriebene – bei den richtigen Menschen ankommen zu lassen.   

Sein Einsatz wurde von zahlreichen Organisationen gewürdigt, die alle sein Engagement für Frieden und soziale Gerechtigkeit hervorhoben. Im folgenden Interview aus der Reihe „Stimmen aus der Kirchengemeinschaft“ spricht er über die Auswirkungen des Kriegs in der Ukraine auf das Gemeindeleben und berichtet, wie man auch in Kriegszeiten Hoffnung verbreiten kann.  

Erzählen Sie uns zunächst etwas über sich selbst. Was hat Sie bewegt, Pastor zu werden?  

Ich wurde im Nordkaukasus im Süden von Russland geboren. 1988 bin ich zum Studieren in die Ukraine gegangen. Zur Kirche bin ich erst mit 22 Jahren gekommen, denn in meinem Geburtsland Russland (damals noch die Sowjetunion) gab es keine Kirche; in der Westukraine aber schon. Nachdem ich zwei Jahre Mitglied in der Gemeinde dort gewesen war, wurde gefragt, ob sich jemand von uns vorstellen könnte, den Gottesdienst in Odessa zu leiten, weil es dort keinen Pastor gab. Also schickte meine Gemeinde in der Westukraine mich als ehrenamtlichen Prediger nach Odessa.  

Ich wurde an einem Theologischen Seminar in St. Petersburg ordiniert, wo ich ein Jahr lang mit Studierenden gearbeitet hatte. Im Anschluss lud die ukrainische Kirche mich ein, zurückzukommen. Zehn Jahre lang arbeitete ich im Büro des Bischofs und war dort für die Bildungsprogramme verantwortlich, organisierte Reisen und managte die diakonische Arbeit.  

In der Schule hatte ich immer in der letzten Reihe gesessen, weil ich sehr introvertiert bin. Öffentlich reden? Das war absolut nichts für mich, müssen Sie wissen. Aber Gott hatte andere Pläne für mich. Die erste Predigt, die ich hielt, veränderte alles. Ich stellte fest, dass es gar nicht schwer für mich war, auf der Kanzel zu stehen – ab diesem Moment wusste ich, dass das meine Berufung war. Ich hoffe sehr, dass mich dieses Selbstvertrauen nie verlässt.  

Wie ist die Lage in Ihrer Gemeinde heute, zweieinhalb Jahre nach Beginn des russischen Angriffskriegs?  

Eine kleine Gemeinde bedeutet viele verschiedene Aufgaben für eine einzige Person. Und ich bin inzwischen sogar Pastor von fünf Gemeinden, weil es nicht genug Pfarrpersonen gibt. Alle fünf sind kleine Kirchen mit kleinen Gemeinden. In Petrodolynske habe ich eine Vollzeitstelle als Pastor, in Nowohrodiwka und Odessa eine Teilzeitstelle. Meine Gemeinde in Odessa ist die größte. Unsere Kirche ist wunderschön und über 100 Jahre alt.   

Darüber hinaus besuche ich regelmäßig auch die Gemeinde in Krywyj Rih und leiste Seelsorge in der Gemeinde in Smijiwka (Schlangendorf), was teilweise – vor allem durch die humanitäre Hilfe – mit unserer Arbeit in Petrodolynske und Krywyj Rih verbunden ist. Die Kirche in Smijiwka wurde zerstört. Sie stand direkt am Ufer des Flusses Dnepr (Oblast Cherson) und wurde die ganze Zeit vom anderen Ufer aus bombardiert.   

Das alles ist sehr viel Arbeit. Als der Krieg losging, haben 80 Prozent unserer Gemeindeglieder das Land verlassen. Viele von ihnen haben deutsche Wurzeln und als der Krieg losging, haben sie diese Verbindung genutzt, um sich in Deutschland ein neues Leben aufzubauen.  

Der Krieg hat aber auch neue Menschen in unsere Gemeinden gebracht. Zum Sonntagsgottesdienst kommen in der Regel 40 bis 50 Menschen. In den drei Jahren seit dem Angriff haben wir drei Mal Konfirmation gefeiert. Und die meisten Menschen, die wir konfirmiert haben, waren Erwachsene.  

Wie schaffen Sie es, das Gemeindeleben auch in Kriegszeiten aufrechtzuerhalten? 

Allen Herausforderungen zum Trotz sind wir immer noch sehr aktiv. Wir veranstalten Konzerte und organisieren Weihnachtsmärkte. Dadurch wollen wir den Menschen in unserer Stadt zeigen, was die Kirche auch in schwierigen Zeiten für sie tun kann.  

Unsere Gemeinden bringen sich auch engagiert in zivilgesellschaftliche Initiativen ein. Wir unterstützen 1.260 Menschen mit Lebensmitteln und anderen Formen von Hilfe. Wir geben die Hilfe nicht an einem zentralen Ort aus, sondern gehen zu den Menschen nach Hause. Für viele ist das sehr wichtig, um ihre Würde zu wahren. Neben Lebensmitteln geben wir auch Schulmaterial, Möbel und was immer wir sonst noch auftreiben können.  

Wir haben gute Beziehungen zu acht Dörfern in der Umgebung aufgebaut, wo wir mit Seniorinnen und Senioren, Kindern und Familien zusammenarbeiten. Tatsächlich haben wir ein weiteres Zentrum für Kinder aus problembelasteten Familien eröffnet. Aber insgesamt ist das Leben im letzten Jahr noch schwerer geworden. Unter den älteren Menschen in haben wir eine erhöhte Sterblichkeit beobachtet. Die Menschen können sich keine Medikamente mehr leisten und leben in ständiger Angst. Allein in den letzten sechs Monaten sind 10 Prozent der 1.260 Menschen, die wir unterstützen, gestorben. Das ist ein enorm großer Verlust.  

Zusätzlich zu unserer Sozialarbeit organisieren die Menschen in unseren Gemeinden eine ganze Reihe von Aktivitäten wie beispielsweise Jugendprogramme, Veranstaltungen für Kinder und Musikunterricht. Wir haben ein Zentrum für Kinder aus Familien eingerichtet, in denen es Probleme mit Alkohol gibt. Wir betreiben sehr erfolgreich eine kleine Schule für 14 Kinder, die dort Mahlzeiten bekommen, ihre Hausaufgaben machen und weitere Unterstützung erhalten können.  

Mein größtes Problem derzeit ist, einen Ort zu finden, von wo aus wir unsere Sozialfürsorge organisieren können. Räumlichkeiten anzumieten ist unmöglich geworden – niemand vermietet seine Räume für die Arbeit mit armen Menschen. Deshalb konzentriere ich mich darauf, den Wiederaufbau unserer Kirche aus den Trümmern der früheren Kirche zu organisieren. In dem wiederhergestellten Gebäude soll ein Kinderzentrum entstehen, wollen wir die Kapazitäten der Suppenküche ausbauen und Räume schaffen, in denen Menschen unterkommen können, wenn es im Winter richtig kalt wird. Zudem wird die Gemeinde in Nowohrodiwka endlich aus meiner Privatwohnung in ein richtiges Gotteshaus umziehen können.  

Rund um Odessa gibt es viele Angriffe und Kämpfe. Sie sind bereits in das Einberufungsbüro beordert worden. Besteht die Gefahr, dass Sie zum Militärdienst eingezogen werden?  

Ich hoffe, dass das nicht passieren wird. Ich war erst kürzlich im Militärbüro, um eine Erlaubnis für eine Auslandsreise zu beantragen. In den letzten zwei Jahren war ich in diplomatischem Auftrag meiner Kirche in insgesamt 15 Ländern. Es ist sehr wichtig, den Menschen in anderen Ländern von der Lebensrealität in der Ukraine zu berichten. Anfangs habe ich in Deutschland und vielen anderen Ländern bestimmt mehr als 100 Interviews gegeben, zum Beispiel im Radio und auf anderen Plattformen.   

Ich glaube, dass ich so, wenn ich von unserem Leben erzähle, mehr tun kann als an der Front. Unsere Sozialfürsorge in direktem Umfeld unserer Kirche ist genauso wichtig. Wir kümmern uns um Kinder und geben 24 Binnenvertriebenen in unseren Räumlichkeiten ein vorübergehendes Zuhause. Diese Arbeit ist sehr wichtig und verlangt konstanten Einsatz. Ich glaube, dass ich durch dieses soziale Engagement und meinen Einsatz für die Bedürftigen sehr viel mehr bewirken kann.  

Haben Sie je darüber nachgedacht, das Land zu verlassen?  

Ich hatte die Möglichkeit, zu gehen. Ich habe sehr gute Kontakte in die USA und sie haben mir im Februar 2022 angeboten, mir dabei zu helfen, wegzukommen. Das war, als es noch möglich war, aber die Lage schon sehr gefährlich schien. Aber ich habe abgelehnt, habe gesagt: „Nein, nein, nein – das geht nicht. Ein Hirte kann doch nicht weglaufen, wenn der Wolf kommt!?!“ Ein Hirte muss bei den Menschen bleiben, die Hilfe brauchen. Keine der lutherischen Pfarrpersonen in der Ukraine ist gegangen; wir sind alle geblieben.  

Auch meine Frau hat beschlossen, zu bleiben. Unsere beiden erwachsenen Kinder studieren in New Mexico.  

Sind Sie müde?  

Leider meistens ja. Die ständige Angst, eingezogen zu werden, ist kräftezehrend und aufreibend. Ich habe eng mit dem Militär zusammengearbeitet, habe ihnen viel geholfen – in Form einer Unterstützung durch die Suppenküche und mit anderen Ressourcen.  

Jetzt da ich selbst auch im Einberufungssystem hänge, erlebe ich am eigenen Leib, wie verstaubt und unmenschlich das Verfahren ist. Das darf nicht sein. Ihnen gefällt meine Kritik sicher nicht, aber ich werde weiterhin den Mund aufmachen.  

Mir bleibt nicht mehr viel Kraft für meinen Dienst, aber am Ende liegt alles in Gottes Hand. Er wird für alles Notwendige sorgen. Mich treibt auch an, dass da Menschen sind, die Hilfe brauchen – davor kann ich meine Augen und Ohren nicht verschließen.  

Was macht es mit Ihnen, dass das Land, in dem Sie geboren wurden, jetzt das Land angreift, in dem Sie zu Hause sind?  

Meine beiden Brüder leben noch in Russland, aber wir haben keinen Kontakt mehr. Ich spreche nur noch mit meiner Mutter und das auch nur etwa alle zwei Monate. Wenn wir miteinander sprechen, geht es nur um die Frage, wie es uns geht – sonst nichts. Sie haben Angst, Fragen zu stellen oder zu viel zu sagen. Und ich will auch nichts provozieren.  

Wie gelingt es Ihnen, auch nach fast drei Jahren Krieg noch die frohe Botschaft zu verkündigen?  

Christus ist immer noch der gleiche. Mit ihm können wir immer reden. In unseren Predigten geht es nicht direkt um Politik, aber ich spreche darüber, wie wir mit den Folgen umgehen können – wie wir mit Hass und Angst umgehen können, ohne uns von ihnen kleinkriegen zu lassen.  

Auch in Zeiten von Krieg geht das Leben weiter. Vier Monate nach dem Einmarsch haben wir drei Spielplätze für Kinder in umliegenden Dörfern gebaut. Die Menschen waren überrascht, dass wir in einer solchen Situation Spielplätze bauen, aber wir waren uns mit dem Gemeinderat einig: Die Menschen brauchen positive Signale. Ich bin überzeugt, dass das unglaublich wichtig ist.  

Durch unsere Arbeit zeigen wir eine andere Art Kirche; eine Kirche, die nicht nur zuschaut, sondern zu den Menschen geht, sie unterstützt und auf ihre Bedürfnisse eingeht. Die Herausforderungen, mit denen wir konfrontiert sind, haben auch unser Glaubensverständnis vertieft und unsere Einsatzbereitschaft für die breitere Gesellschaft vergrößert.  

LWB/ C. Kästner-Meyer