Ukraine: Aufstehen und weitermachen

2. Sep. 2022

LWB-Zentren unterstützen ukrainische Geflüchtete beim Neuanfang in Polen

Hanna und Olga mit ihren Kindern, im LWB-Zentrum in Danzig. Foto: B. Pachuta, LWB

Hanna und Olga mit ihren Kindern, im LWB-Zentrum in Danzig. Foto: B. Pachuta, LWB

(LWI) – Im vergangenen Jahr hat Anastasia um diese Zeit Urlaub am Schwarzen Meer gemacht. Dieses Jahr sieht sie das Meer jeden Tag, aber es ist ein anderes Meer, und sie ist nicht als Touristin gekommen. Anfang März ist sie mit ihren beiden Kindern und ihrer Mutter vor dem Krieg in der Ukraine geflohen. Anastasia hat zunächst Zuflucht in Danzig in Polen gefunden. Ihr Ehemann und ihr Vater sind in der Ukraine geblieben, um für ihr Land zu kämpfen.

Anastasia gehört zu den 60.000 Menschen, die von den überall im Land vom Lutherischen Weltbund  (LWB) eingerichteten Zentren für die Auszahlung von Bargeldhilfen finanziell unterstützt werden. Diese Gelder kommen in erster Linie vom Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR). In Danzig, das an der Ostsee liegt, bestimmen Geflüchtete aus der Ukraine und Touristinnen und Touristen, die hier ihren Sommerurlaub verbringen, das Stadtbild. Ihre Erfahrungen könnten jedoch unterschiedlicher nicht sein – Bewältigung einer Lebenssituation unter unsicheren Verhältnissen, Kriegstraumata und die allein zu leistende Betreuung von Kindern und alten Eltern sind für die Mütter eine besondere Herausforderung.

Trauma und Heimweh

Anastasia mit ihren Kindern. Foto: B. Pachuta, LWB

Anastasia mit ihren Kindern. Foto: B. Pachuta, LWB

Anastasia und ihre Familie wurden zunächst von einer polnischen Familie aufgenommen, die sich sehr engagiert um sie gekümmert hat. Die Familie lebt in einer Kleinstadt in der Nähe von Danzig, aber auch nicht weit von einer polnischen Militärbasis entfernt – was Anastasia damals nicht wusste.  „Als wir am Anfang das Geräusch der sich nähernden Flugzeuge gehört haben, wollten wir sofort wegrennen“, erzählt sie. In den ersten beiden Monaten haben ihre Kinder nicht verstanden, warum sie nicht nach Hause zurückkehren können. Sie vermissen ihren Vater und ihre Freunde.

Olgas und Hannahs Kinder bitten jetzt ihre Verwandten, die in der Ukraine geblieben sind, ihnen Fotos von den Orten zu schicken, an denen sie ihre Zeit verbracht haben – Schulen, Spielplätze, Parks. Sie fragen immer noch, wann sie zurückkehren können. Die beiden Frauen haben eine Wohnung gefunden, können aber nicht dort bleiben. „Wir wissen nicht, wo wir in Zukunft wohnen werden. Wir wissen nicht, was wir tun werden, wenn die finanzielle Unterstützung aufhört“, sagt Olga. „Wir wollen nur das, was Menschen in Friedenszeiten haben. Wir wollen Stabilität und Sicherheit für uns und unsere Kinder.“

„Gebt uns eine Angel“

Lina, die im LWB-Bargeldhilfezentrum in Danzig tätig ist. Foto: B. Pachuta, LWB

Lina, die im LWB-Bargeldhilfezentrum in Danzig tätig ist. Foto: B. Pachuta, LWB

„Der Verlust von Stabilität, des eigenen Hauses und des eigenen Einkommens setzt dem Selbstwertgefühl der Menschen schwer zu“, sagt Lina, die in der Ukraine im Gesundheitssektor gearbeitet hat. Eine polnische Familie hat sie und ihren Ehemann aufgenommen und ihnen dabei geholfen, Arbeit zu finden. Lina arbeitet jetzt als Psychologin im LWB-Zentrum von Danzig. „Psychologische Unterstützung ist für Menschen in dieser Situation besonders wichtig“, sagt sie. „Sie fühlen sich im Niemandsland zwischen ihrem Zuhause in der Ukraine und ihrem neuen Zuhause in Polen.“

Lina hat beobachtet, dass Menschen in die Ukraine zurückkehren, „weil sie nicht das Geld haben, um die Miete für eine Wohnung zu zahlen, und weil sie sich das Leben hier nicht leisten können.“ Zusätzlich zu der in den Zentren ausgezahlten finanziellen Unterstützung, so Lina, bräuchten die Menschen auch psychologische Hilfe, um mit der neuen Situation klarzukommen. „Die Geflüchteten kommen nicht hierher, weil sie sich das gewünscht haben, sondern weil sie keine andere Wahl haben“, sagt sie. Sie setzt sich dafür ein, dass das Potenzial der Geflüchteten genutzt wird und sie Arbeitsstellen finden, die ihren Kompetenzen und Qualifikationen entsprechen: „Gebt uns keinen Fisch, gebt uns eine Angel!“

Mehr als 90 Prozent des Personals, das der LWB für die Zentren rekrutiert hat, sind nach Aussage von Allan Calma selbst Geflüchtete. Calma ist beim LWB für die Koordinierung humanitärer Aktionen zuständig und war in Polen während der ersten fünf Monate als Teamleiter im Einsatz. „Ich bin tief bewegt und inspiriert, wenn ich die Entschlossenheit in den Gesichtern dieser Frauen sehe, die trotz der Traumata und Herausforderungen, die sie immer noch erleben, versuchen, wieder so etwas wie Normalität in ihr Leben zu bringen. Wir müssen ihnen zuhören und von der Lieferung von Hilfsgütern wegkommen und dafür mehr unternehmen, damit sie eine Erwerbstätigkeit finden“, so Calma.

Resilienz

Dina mit einem ihrer Söhne. Um ihre Kinder zu unterstützen, nahm sie eine Arbeit an, die unter ihren Qualifikationen lag. Foto: B. Pachuta, LWB

Dina mit einem ihrer Söhne. Um ihre Kinder zu unterstützen, nahm sie eine Arbeit an, die unter ihren Qualifikationen lag. Foto: B. Pachuta, LWB

Viele der Frauen sind hochqualifiziert. Anastasia zum Beispiel hat als Personalmanagerin gearbeitet, und Dina war 20 Jahre in einer Steuerkanzlei tätig. Hanna ist Choreographin, und Olga war stellvertretende Schuldirektorin und unterrichtet jetzt Online-Klassen. Die Sprachbarriere hindert sie jedoch zunächst daran, eine Tätigkeit in ihrem Beruf zu finden. Auch an der Kinderbetreuung fehlt es.

Bis sie genügen Polnisch gelernt haben, um im Land arbeiten zu können, bleiben sie abhängig von der Unterstützung durch den LWB, damit sie die Mieten für ihre Wohnungen zahlen können und Lebensmittel und Schulmaterial für den Unterricht kaufen können. Einige haben auch Arbeitsstellen angenommen, für die sie überqualifiziert sind. Dina, die eigentlich Steuerberaterin ist, arbeitet jetzt als Reinigungskraft. „Ich vermisse meine Arbeit in der Ukraine und den beruflichen Status, den ich dort hatte. Hier fange ich wieder bei Null an“, sagt sie. Manchmal erlebt sie emotionale Abstürze, aber ihre Kinder brauchen sie. „Man muss aufstehen und weitermachen“, sagt sie.

In Polen unterstützt der LWB Geflüchtete aus der Ukraine durch ein Länderprogramm. Sechs Zentren für die Auszahlung von Bargeldhilfen sind im ganzen Land verteilt. Der LWB leitet diese Zentren gemeinsam mit der Evangelisch-Augsburgischen Kirche in Polen, einer LWB-Mitgliedskirche.

Der LWB leistet ebenfalls durch seine örtlichen Mitgliedskirchen in Polen, Ungarn, Rumänien und der Slowakischen Republik Hilfe für die Menschen in der Ukraine. Gemeinsam mit der Deutschen Evangelisch-Lutherischen Kirche der Ukraine, einer LWB-Mitgliedskirche, unterstützt der LWB Menschen im ukrainischen Oblast Tschernihiw in Norden der Ukraine.

Auf globaler Ebene nimmt der LWB an der weltweiten Advocacy-Arbeit für den Frieden und den Schutz vertriebener und vulnerabler Menschen teil. Diese Arbeit wird von den Finanzierungspartnern des LWB unterstützt, darunter auch die Evangelisch-Lutherische Kirche in Amerika.

LWB/C. Kästner-Meyer, B. Pachuta. Deutsche Übersetzung: Detlef Höffken, Redaktion: LWB/A. Weyermüller