Kirchen müssen ganzheitlich auf Kriege und Konflikte reagieren
(LWI) – Rund 1.000 Tage nach dem großangelegten Angriffskrieg auf die Ukraine sind mehr als 14 Millionen ukrainische Menschen aus ihrer Heimat und ihren Häusern vertrieben worden. Weil keine unmittelbares Ende des Kriegs in Sicht ist, hat die Hilfe für die Flüchtlinge für die Kirchen in Europa nach wie vor einen zentralen Stellenwert.
Am 3. Dezember haben 44 Vertreterinnen und Vertreter von Mitgliedskirchen des Lutherischen Weltbundes (LWB) aus ganz Europa das Beratungszentrum für ukrainische Flüchtlinge der Diakonie Österreich – eines Dachverbands von Hilfsorganisationen und sozialen Organisationen von protestantischen Kirchen in Österreich – besucht.
In Österreich leben derzeit mehr als 80.000 ukrainische Flüchtlinge mit vorübergehendem Aufenthaltsrecht und die diakonischen Organisationen im Land leisten Hilfe auf vielen verschiedenen Gebieten. Sie sammeln und verteilen beispielsweise Nahrungsmittelspenden, bieten Beratung in verschiedenen Bereichen wie psychosozialer Unterstützung und im medizinischen Bereich an und helfen bei der Wohnungs- und Jobsuche.
Immer mehr Geflüchteten, von denen die meisten Frauen mit Kindern sind, die nun nach der in Österreich geltenden Schulpflicht die öffentlichen Schulen dort besuchen, wird derzeit bewusst, dass sie voraussichtlich länger werden bleiben müssen als ursprünglich gedacht, da der Krieg in ihrer Heimat unvermindert weiter wütet. „Statistisch betrachtet hat es im vergangenen Jahr einen sprunghaften Anstieg bei der Zahl von ukrainischen Flüchtlingen gegeben, die den Wunsch geäußert haben, lieber hier bleiben zu wollen als in ihr Heimatland zurückzukehren“, erklärte Claudia Lui, die das Beratungszentrum der Diakonie leitet.
Wir versuchen, alle Lebensbereiche der Geflüchteten abzudecken. Denn das Leben ist ja mehr als unsere Probleme.
Claudia Lui vom Beratungszentrum der Diakonie Österreich
„Unser Ziel ist, eine zentrale Anlaufstelle für die Geflüchteten für alle Fragen zu sein und unsere Hilfe in verschiedenen Sprachen anzubieten“, sagte Lui und berichtete, dass das Zentrum 2024 bereits 23.000 Beratungssitzungen für rund 4.500 Menschen durchgeführt habe. Aber bei der Hilfe für die Geflüchteten ginge es nicht nur um praktische Antworten auf spezifische Fragen und Probleme, insbesondere wenn die Menschen anfingen, sich mehr und mehr zu integrieren. „Wir versuchen, alle Lebensbereiche der Geflüchteten abzudecken. Denn das Leben ist ja mehr als nur unsere Probleme“, betonte Lui.
In dem Beratungszentrum werden aber nicht nur verschiedene Beratungsdienste angeboten, sondern es gibt auch eine Vielzahl von informellen Angeboten wie beispielsweise Schachturniere oder andere Turniere für Kinder und Handarbeitsgruppen, in denen ältere Frauen zusammen stricken. Das soll den Geflüchteten helfen, ihrem Leben wieder eine Struktur zu geben, und soll Möglichkeiten für sozialen Austausch schaffen.
„Wenn ich ehrlich bin, besteht unsere Rolle oftmals einfach darin, einen Raum zu bieten – die ukrainischen Geflüchteten kommen oftmals von sich aus zu uns und sagen, ‚Ich bin Fotografin oder ich bin Seifenblasenkünstlerin und würde den andere Geflüchteten gerne irgendwie helfen‘; dann helfen wir ihnen ganz einfach, indem wir hier einen Raum zur Verfügung zu stellen, um ihre Aktivitäten zu organisieren“, berichtete Lui.
Theologie und Hilfe für Menschen in Not
Pfarrerin Dr. Maria Moser, die Direktorin der Diakonie Österreich, sagte bei dem Besuch, der Teil des Programms einer LWB-Konsultation zum Thema „Churches Reflecting Together: Peace, Justice, and Reconciliation in Times of War“ (Kirchen denken gemeinsam nach: Frieden, Gerechtigkeit und Versöhnung in Zeiten von Krieg) war: „Es ist immer wichtig, dass die theologische Reflexion in der tatsächlichen Lebenserfahrung der Menschen wurzelt und Antworten gibt auf die diakonischen und gesellschaftlichen Herausforderungen und Probleme, mit denen wir in Zeiten eines Kriegs oder einer humanitären Krise konfrontiert sind.“
Sie unterstrich den „multiperspektivischen“ Ansatz des Beratungszentrums, der bedeutet, dass sich die Hilfsangebote auf medizinische Themen, die Wohnungssuche, den Arbeitsmarkt, aber auch schwierige soziale Situationen konzentrieren. „Gleichzeitig müssen sich Menschen, die unter Kriegssituationen leiden, wieder ein Leben aufbauen und wieder Freude empfinden. Freiwillige und vertriebene Menschen selbst kommen zu uns und organisieren gesellige Aktivitäten wie Ausflüge, Picknicks oder anderen Arten von Veranstaltungen, und das spiegelt in unseren Augen die Zurüstung zu mehr Selbstbestimmung wider“, erklärte sie abschließend.
Dekan Pål Kristian Balstad von der Norwegischen Kirche fand den Besuch auch für andere schwierige Situationen aufschlussreich, mit denen die Menschen in anderen Teilen von Europa konfrontiert seien. „Ich fand es sehr inspirierend, wie hier gearbeitet und versucht wird, den ukrainischen Flüchtlingen zu helfen. Wir ringen in Norwegen mit der gleichen Aufgabe: damit, wie wir uns öffnen und herausfinden können, wie wir Menschen in wirklich sehr schwierigen Lebenssituationen am besten helfen können“, erklärte Balstad.
„Das Zusammengehörigkeitsgefühl in Europa ist stark und es ist eine Tradition, sich gegenseitig zu helfen; und das macht mir Hoffnung für die Zukunft, aber auch die Fragen, die wir uns hier zu den Theologien des Friedens und des Kriegs stellen. Der Besuch hier übersetzt diese theoretischen Gedanken in ganz praktische Arbeit“, sagte er. „In der Theologie geht es nicht nur darum, darüber nachzudenken, wie das Leben ist oder sein sollte. Es geht darum, den Menschen zu begegnen; Theologie ist praktisch gelebtes Evangelium mit und für Menschen in Not – und das ist doch im wahrsten Sinn die Mission der Kirche in der Welt.“
Auch Pfarrerin Dr. Lilla Molnár von der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Ungarn betonte, wie wichtig es sei, einen Zusammenhang herzustellen zwischen den auf der Konsultation erörterten Themen und der praktischen Unterstützung für notleidende Menschen. „Die Kirche muss die theologische Arbeit leisten und sich mit den ethisch-moralischen Fragen rund um Krieg und Frieden beschäftigen. Aber in gewisser Weise waren wir uns auch an vielen Stellen einig, dass es die wichtigste und größte Aufgabe ist, sich um die Menschen zu kümmern, ihre Bedürfnisse zu erkennen und ihnen zu helfen“, sagte Molnár.