Polen: Gott und der Kirche ohne Einschränkungen dienen

3. Nov. 2023

Im Interview berichtet Pfarrerin Halina Radacz über ihren persönlichen Weg ins Pfarramt, ihre lutherische Identität in einer Minderheit der polnischen Gesellschaft und den langen Prozess zur Frauenordination in ihrer Kirche. 

 

Pfarrerin Halina Radacz von der Evangelisch-Augsburgischen Kirche in Polen mit anderen Pfarrerinnen auf einem Podium, die den Prozess ihrer Kirche zur Aufnahme von Frauen in das ordinierte Amt vorstellen

Pfarrerin Halina Radacz von der Evangelisch-Augsburgischen Kirche in Polen mit anderen Pfarrerinnen auf einem Podium, die den Prozess ihrer Kirche zur Aufnahme von Frauen in das ordinierte Amt vorstellen. Foto: LWB/Albin Hillert

Im Interview: Pfarrerin Halina Radacz von der Evangelisch-Augsburgischen Kirche in Polen 

Nach einem Theologiestudium an der Christlich-Theologischen Akademie in Warschau (Chrześcijańska Akademia Teologiczna w Warszawie – ChAT) und der erfolgreich bestandenen Ersten Theologischen Prüfung wurde Halina Radacz 1987 ins Amt der Katechetin in der Evangelisch-Augsburgischen Kirche in Polen eingesegnet. Ihre männlichen Mitstudierenden wurden Pfarrer. 

Erst im Mai 2022, nach 35 Jahren im Dienst ihrer Kirche, wurde Radacz als eine der ersten Frauen zur Pfarrerin ordiniert. Im Interview berichtet sie über ihren persönlichen Weg in Pfarramt und die Herausforderungen des Dienstes in der Kirche und für die Menschen. 

Bitte erzählen Sie uns etwas über ihre Kindheit und Ihren Hintergrund. 

Meine Familie väterlicherseits ist seit der Reformation evangelisch. Papa war immer stolz auf diese jahrhundertealte Familientradition. Meine Mutter war freiwillig evangelisch geworden. Es war eine gut durchdachte Entscheidung von ihr: Sie konnte Fragen stellen und nach Antworten suchen. 

Als ich in der Schule wegen meiner Religion gehänselt wurde, zeigte sie mir Argumente auf, mit denen ich mich verteidigen konnte. Einmal, in der 7. Klasse, funktionierten verbale Auseinandersetzungen nicht und ich geriet in handgreiflichen Streit mit einem Klassenkameraden. Ich spreche darüber, weil es einerseits nicht einfach war, in einer katholischen Gesellschaft evangelisch zu leben. Andererseits trug das zur Festigung der eigenen Identität bei! – Einem Gefühl der Verschiedenheit und dem Bewusstsein für das Evangelisch-Sein. Allerdings waren meine Eltern sehr offen, insbesondere mein Vater, der mit billigen Verallgemeinerungen und Stereotypen nicht einverstanden war. 

Meine Mutter starb, als ich 16 war. Ich war ein rebellischer Teenager, stritt mit Gott und warf ihm Gefühllosigkeit und Ungerechtigkeit vor. Ich fragte: Warum und wofür? Aber gleichzeitig war die Pfarrei und der Pfarrjugendkreis der Ort, an dem ich mich sicher fühlte und Unterstützung erhielt. 

Im Laufe der Zeit führten meine Rebellion und meine Fragen zum Vertrauen und einem Bewusstsein, dass Gott Pläne für uns und für mich hat, und uns niemals allein lässt und enttäuschen will. 

Sie gehören zu den ersten Frauen, die in Ihrer Kirche ordiniert wurden. Wann haben Sie Theologie studiert und was hat Sie damals dazu motiviert? 

Ich wusste, dass ich nicht für einen Schreibtischjob geeignet war. Ich wollte mit Kindern und Jugendlichen arbeiten. Ich dachte darüber nach, Geschichtslehrerin zu werden, weil mich das Fach sehr interessierte. Aber es waren die 1970er Jahre. Im kommunistischen Polen war es unmöglich, über kritische Punkte der Geschichte zu sprechen; z.B. über den Ribbentrop-Molotow-Nichtangriffspakt mit Zusatzprotokoll von 1939. Oder über das Massaker von Katyn bei dem Tausende polnischer Offiziere und Intellektuelle und Geistliche – kurzum die Elite meines Heimatlandes – ermordet wurde. 

Ich wollte die Wahrheit kennen, an die ich glaub(t)e, also habe ich mich für die Theologie entschieden. Ich war überzeugt, dass man kein Pfarramt innehaben muss, um in der Kirche nützlich zu sein. Mein Vater versuchte mich von dieser Idee abzubringen. Er versuchte, mich davon zu überzeugen, dass ich als Frau mein Leben lang für Gleichbehandlung kämpfen würde. Und er hatte nicht unrecht, obwohl ich ihm damals nicht glaubte, denn ich sah die Kirche als einen sicheren und gerechten Ort der Wahrheit und Liebe.  

In welchen Funktionen waren Sie als nichtordinierte Theologin tätig? 

Ich habe das Theologiestudium erfolgreich abgeschlossen und die Erste Theologische Prüfung meiner Kirche bestanden – wie die Männer. Dann wurden meine Kollegen ins Pfarramt ordiniert, während ich als Katechetin in das Amt für kirchlichen Unterricht eingeführt wurde. 

Das erste Jahr meines Dienstes verbrachte ich in Sopot, in meiner Heimatgemeinde. Ich war als Katechetin tätig; zugleich gestaltete und feierte ich regelmäßig Gottesdienste – ohne Abendmahl. Anschließend arbeitete ich in Działdowo und Olsztynek in Masuren. Mein Vorgesetzter wohnte 30 Kilometer von mir entfernt und ich habe die tägliche Gemeindearbeit geleistet. Er kam einmal im Vierteljahr, um den Abendmahlsgottesdienst zu feiern. 

Damals begann ich erneut, mir die Frage zu stellen: Warum kann ich keine Pfarrerin sein? Warum kann ich Gott und der Kirche nicht ohne Einschränkungen dienen? Warum kann ich den kranken und älteren Gemeindemitgliedern, die ich besucht habe, kein Abendmahl spenden? 

Was hat sich in Ihrer Kirche geändert, seitdem Frauen ordiniert werden können? 

Meine Kirche hat sich nach einem Prozess, der sich über 70 Jahre hinzog, den Kirchen angeschlossen, in denen das Amt, das auf dem Priestertum aller Getauften aufbaut, die Gaben Gottes wahr- und, unabhängig vom Geschlecht, ernstnimmt. Das wird die Kirche im Laufe der Zeit in eine Gemeinschaft von Schwestern und Brüdern mit gleichem Recht auf Mitsprache und Verantwortung verwandeln.  

Ich bin überzeugt, dass wir durch diesen Prozess glaubwürdiger bei der Verkündigung des Evangeliums und des Versöhnungsauftrages Jesu Christi werden. Er hat sein Leben gegeben für alle Menschen, unabhängig von Geschlecht, Sexualität und Herkunft. 

Internationale Beziehungen und Treffen haben für viele Frauen eine besondere Rolle gespielt. Welche Erlebnisse und Einsichten sind hierdurch für Sie gewachsen? 

Während meines Theologiestudiums hatten wir in Polen keinen Zugang zur feministischen Theologie und Literatur. Das lag einerseits an Sprachbarrieren; andererseits hatten unsere Professoren kein Interesse daran, diese an die Studierenden weiterzugeben. Wenn uns Neuigkeiten erreichten, dann nur in Form von Witzen unter der Gürtellinie. 

Persönliche Kontakte mit Theologinnen und engagierten Frauen aus Westeuropa haben uns dennoch zu einer anderen Perspektive auf unsere Rolle in der Kirche und zu einer anderen Auslegung bekannter Texte verholfen. Gleichzeitig gaben sie uns den Mut, laut zu sagen, dass wir Rechte haben, dass die Würde der Frau wiederhergestellt werden muss, weil sie Jesus von Nazareth, der Christus Gottes, in seiner Person, seinem Werk und Leben uns gegeben hat, und zwar schon vor zweitausend Jahren.  

Innerhalb Polens haben wir ein starkes Netzwerk aufgebaut. Wir treffen uns zu Diskussionen und Themen, die für uns alle wichtig sind. Sie vermitteln einander das Gefühl, eine Gemeinschaft zu sein und können gemeinsam mehr erreichen als allein. 

Ich erinnere mich an ein Treffen in Bielsko-Biała, bei dem es um die Salbung und damit um Berufung zum Dienst ging. Ich glaube, damals spürte ich zum ersten Mal, dass ich zum Dienst berufen war. Dass es nicht nur mein Wunsch, sondern eine spirituelle Notwendigkeit war. Dass derjenige, der mich berufen hatte, Jesus Christus war, und dass mir niemand diese Berufung nehmen dürfte. 

Gibt es einen besonderen biblischen Text, dessen Auslegung aus frauenspezifischer Perspektive für Sie besonders wichtig ist? 

Ich habe drei Lieblingstexte: 

  1. Marta und Maria von Bethanien (Lukas 10,38-42). Traditionell ist Martha diejenige, die dient – ​​Diakonie. Maria ist diejenige, die zuhört und betet – Gebet. Für mich ist Marta diejenige, die an den geltenden gesellschaftlichen Regeln festhält – der Platz einer Frau liegt im Dienen. Maria ist diejenige, der Jesus das Recht gegeben hat zu lernen – sie hat sich für den besseren Teil entschieden. 
  2. Maria Magdalena – die Apostelin der Apostel (Johannes 20,1-18). Es gab keine Zufälle im Handeln Jesu, im Heilsplan Gottes. Warum war sie die erste, die dem auferstandenen Jesus begegnete? Warum war sie die Erste, die Seine Auferstehung verkündete? 
  3. Lydia (Apostelgeschichte 16,14f). Aufgrund ihres Glaubens wurde ihr gesamtes Haus getauft, d.h. alle, die darin lebten. Wer leitete die Gemeinde, die in Lydias Haus gegründet wurde? 

Natürlich gibt es noch viele weitere wichtige Texte (u.a. auch im Alten Testament) aber diese haben mein Denken über die Rolle der Frau in der Kirchengemeinschaft grundlegend verändert. 

Pfarrerin Halina Radacz von der Evangelisch-Augsburgischen Kirche in Polen predigt im Eröffnungsgottesdienst der Vorbereitenden Konsultation der Frauen in Breslau, Polen

Pfarrerin Halina Radacz von der Evangelisch-Augsburgischen Kirche in Polen predigt im Eröffnungsgottesdienst der Vorbereitenden Konsultation der Frauen in Breslau, Polen. Foto: LWB/Albin Hillert

Ihre Kirche hat die Dreizehnte Vollversammlung sowie die verschiedenen vorbereitenden Konsultationen ausgerichtet, auch die der Frauen. Was hat es Ihnen bedeutet, bei diesem Anlass zu predigen? 

Als ich gebeten wurde, beim Eröffnungsgottesdienst in Breslau zu predigen, fühlte ich mich geehrt und glücklich. Dann kamen Angst und Verantwortungsbewusstsein. Zum Schluss aber war es die Gelegenheit, das weiterzugeben, was ich für eine der wichtigsten Botschaften des Evangeliums halte: „In Christus Jesus seid ihr eins.“ Das bedeutet, dass wir verpflichtet sind, eine Gemeinschaft ohne Ausgrenzung, ohne Demütigung, ohne Verurteilung aufzubauen. Wir sind alle Kinder Gottes, und Gott ruft uns alle zur Versöhnung in Jesus Christus mit dem Vater und mit den Brüdern und Schwestern um uns herum. 

Welche Botschaft haben Sie für die jungen Frauen und Männer, die sich heute auf den Weg ins Pfarramt oder einen anderen kirchlichen Beruf machen? 

In Luthers Theologie gibt es das Konzept „der sichtbaren Kirche“ und der „unsichtbaren Kirche“. Die sichtbare Kirche ist diejenige, die wir kennen, und die aus uns unvollkommenen Menschen besteht. Mit uns steht sie und fällt sie, mit unseren Verordnungen und Vorschriften, mit unserer Verwaltung. Dies ist keine perfekte Organisation – weil wir nicht vollkommen sind. 

Manchmal geben junge Menschen auf, weil sie Angst vor dieser Unvollkommenheit haben. Aber es gibt auch eine unsichtbare Kirche, die von Gott gesehen wird, und die ich mit Jesu Worten aus der Bergpredigt wiedergeben möchte: „Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach Seiner Gerechtigkeit, so wird euch das alles zufallen” (Matthäus 6,33). Wir such das Reich Gottes und bauen gleichzeitig daran mit. Ich wünsche den jungen Frauen und Männern, dass sie nicht aufgeben mögen, wenn sie die Unvollkommenheit ihrer Kirche erkennen, sondern immer wieder neu versuchen, sie so zu ändern, dass sie dem Bild des Königreichs Gottes näherkomme. 

LWB/A. Weyermüller