Menschen in Spitzbergen ringen um ihre Identität

13. Mai 2022
Pfarrerin Siv Limstrand leitet den Gottesdienst in Ny-Ålesund, der nördlichsten Siedlung der Welt. Foto: Helge T. Markussen

Pfarrerin Siv Limstrand leitet den Gottesdienst in Ny-Ålesund, der nördlichsten Siedlung der Welt. Foto: Helge T. Markussen

Interview mit Siv Limstrand, Pfarrerin einer Gemeinde am nördlichsten Ende der Welt

LONGYEARBYEN, Norwegen/GENF (LWI) – Im wahrsten Sinne des Wortes am nördlichsten Ende der Welt, auf der arktischen Inselgruppe Spitzbergen unweit des Nordpols ist Pfarrerin Siv Limstrand von der Norwegischen Kirche für eine Gemeinde zuständig, deren Mitglieder beständig wechseln und aus bis zu 52 Ländern kommen. Sie ist die einzige Geistliche in dieser abgelegenen arktischen Region, in der die Temperaturen nur im Sommer für einige Monate knapp über den Gefrierpunkt steigen. Der Klimawandel aber verändert die Umwelt spürbar und stellt die rund 3.000 Einwohnerinnen und Einwohner vor neue Herausforderungen.

Longyearbyen, der größte Ort und das Verwaltungszentrum der Inselgruppe, war 1906 als ein Zentrum des Kohlebergbaus gegründet worden. 2023 soll nun die letzte Mine schließen – das wird die Identität der eingeschworenen Gemeinschaft dort grundlegend verändern. Auch wenn der Tourismus im Aufwind ist und das Hochschulzentrum mit seinem Spezialgebiet der Arktisforschung blüht, ist die Trauer um den Verlust der traditionellen Lebensgrundlage und das damit einhergehende Gefühl der Unsicherheit spürbar.

Seit drei Jahren ist Limstrand als Pfarrerin in der Polarregion tätig. Im Interview spricht sie über „die vorhandenen Gaben und die Herausforderung, Brücken zu bauen“ zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft, die Herausforderung, den Menschen in dieser rauen, aber wunderschönen Umgebung dabei zu helfen, „zu erkennen, was sie hinter sich gelassen haben und wonach sie nun suchen“.

Erzählen Sie uns bitte etwas über Ihre Berufung und Ihren persönlichen Weg bis zur Ordination.

Schon als Teenagerin habe ich mich in der Jugendarbeit der Norwegischen Kirche engagiert und später an der Universität Oslo Theologie studiert. Aufgewachsen bin ich in Bodø im Norden Norwegens, wo die Menschen der Religion deutlich aufgeschlossener gegenüberstehen als ich es an der Westküste in Trondheim erlebte, wo ich als Freiwillige gearbeitet habe.

Meine Mutter stammte aus einer Fischerfamilie und mein Vater hat als erster in seiner Familie studiert. Mein Großvater väterlicherseits war ein strenggläubiger Christ und meine beiden Eltern sind sehr traditionell erzogen worden, aber sie haben mich in meiner Entscheidung Anfang der 1980er Jahre, mich für das ordinierte Amt ausbilden zu lassen, immer unterstützt. Ich hatte das Gefühl, wirklich etwas bewegen zu können, als ich mich mit den schwierigen Fragen rund um Identität und dem Zugehörigkeitsgefühl zur Kirche in diesen sehr verschiedenen kulturellen Kontexten beschäftigte.

Nach dem Abschluss Ihres Studiums haben Sie für den LWB in Genf gearbeitet, nicht wahr?

Ganz genau. Anfangs hatte ich in Teilzeit für den CVJM gearbeitet und mich dort mit verschiedenen Themen wie der Solidarität mit Südafrika und Palästina beschäftigt. Aber dann wurde mir die Stelle der Jugendreferentin beim LWB angeboten, die ich von 1991 bis 1994 innehatte. Danach arbeitete ich elf Jahre als Hochschulseelsogerin in Trondheim und anschließend als Straßenpfarrerin für die Stadtmission der Offenen Kirche Trondheim.

Dort habe ich viel zum Thema HIV und AIDS gemacht. Nicht nur in meiner praktischen Arbeit, sondern auch theoretisch habe ich mich mit der Frage auseinandergesetzt, wie die Kirche besser mit diesem Thema umgehen könnte. Die Arbeit mit den vulnerabelsten Menschen in der Stadt, den Obdachlosen, den Bettelnden und den Drogen- und Alkoholabhängigen hat mein Verständnis dafür deutlich verändert, dass die Kirche ein Zufluchtsort für Menschen sein muss, die andernorts nicht willkommen sind. Und diese Veränderung des Verständnisses meiner Kirche hat viele andere Gemeinden in Norwegen und weltweit zu Veränderungen inspiriert. Den Kern des Evangeliums Tag für Tag in dieser Weise zu leben, war für mich persönlich psychisch, theologisch und spirituell eine große Herausforderung, aber auch ein Segen.

Rev. Siv Limstrand in the church at Longyearbyen, close to the North Pole, where she now ministers to the community on Svalbard’s Arctic archipelago.

Erzählen Sie uns von Longyearbyen und was Sie dort heute tun.

Longyearbyen ist ein Ort, an dem alles, was ich bisher gemacht habe, zusammenkommt. Wir leben hier am nördlichsten Ende der Welt und fühlen uns miteinander verbunden. Der nächstgelegene Ort auf dem Festland ist mehr als tausend Kilometer entfernt. Als ich in Genf mit jungen Menschen aus allen Regionen der Welt zusammengearbeitet habe, hatte ich das Gefühl, dass die ganze Welt jeden Tag bei mir am Schreibtisch saß. Hier versuche ich nun, die innere Lebenswelt eines jeden Menschen zu erkennen und ihnen zu helfen, herauszufinden, was sie erlebt haben und wonach sie jetzt suchen.

Wir alle haben unsere Familien und Freunde an anderen Orten der Welt zurückgelassen – und es ist sowohl ein Geschenk als auch eine Herausforderung, als Kirche hier zu sein, als Brücke und Bindeglied zu dienen und als Zufluchtsort für Menschen, die auf der Suche nach ganz unterschiedlichen Dingen sind. Wir teilen unsere Kirchenräume und sind auch für Menschen anderer Konfessionen da: Normalerweise kommt zum Beispiel drei Mal im Jahr ein katholischer Priester her und auch ein Priester der russisch-orthodoxen Kirche. Aber leider hat die Norwegische Kirche im Moment ihre Beziehungen zur russisch-orthodoxen Kirche auf Eis gelegt. Dennoch müssen wir Möglichkeiten und Wege finden, zusammenzuleben, egal was in Russland und der Ukraine gerade los ist.

Was sind die größten Herausforderungen, mit denen man konfrontiert ist, wenn man an einem so abgelegenen Ort lebt und arbeitet?

Wir arbeiten nach der von uns so genannten „Spitzbergen-Zeit“, was allerdings eigentlich nur eine Entschuldigung für die Menschen ist, nie irgendwas wirklich abzuschließen! Alles, was wir hier brauchen, muss per Flugzeug oder Schiff hergebracht werden; und ein Schiff ist drei Tage unterwegs und kommt nur alle zehn Tage. Außerdem ist alles hier hochpolitisch: Spitzbergen ist norwegisches Hoheitsgebiet, aber der Spitzbergenvertrag legt fest, dass wir die Hoheitsgewalt im Namen der internationalen Staatengemeinschaft ausüben.

Es stellen sich viele schwierige Fragen, insbesondere wo jetzt in der Ukraine Krieg herrscht – zum Beispiel, ob es richtig ist, die letzte Mine zu schließen, bevor wir sichergestellt haben, dass wir durch andere Quellen wie Sonnenkraft oder Wasserstoffenergie ausreichend Strom produzieren können. Währenddessen durchlaufen die Menschen einen Trauerprozess, weil sie ihre traditionellen Lebensgrundlagen verlieren.

 Helge T Markussen

Hat der Klimawandel Auswirkungen auf das Leben der Menschen in Spitzbergen?

Die Temperaturen steigen hier doppelt so schnell wie im Rest der Welt. Das sehen wir deutlich an den schmelzenden Gletschern, den beträchtlichen Veränderungen in der Vegetation und dem Verlust von Eisbären und anderen Tieren in der freien Natur. Es regnet mehr und ist milder, es gibt mehr Lawinen und mehr Erdrutsche.

Unsere Wohnhäuser waren früher sichere Orte, Refugien vor der Kälte und den wilden Tieren. Jeder, der sich außerhalb des Ortes bewegen wollte, musste ein Gewehr dabeihaben, um sich gegen Angriffe von Eisbären wehren zu können. Aber heute verschwinden diese Tiere und unsere Wohnhäuser sind nicht mehr immer wirklich sicher. 2015 sind ein Mann und ein kleines Kind in einer Lawine ums Leben gekommen und viele weitere Häuser wurden beschädigt. Anders als in der Vergangenheit können die meisten Fjorde wegen des Rückgangs vom Meereis nicht mehr betreten und als Verkehrsstraße benutzt werden. Wir werden also jeden Tag aufs Neue an das Problem Klimawandel erinnert.

Was bedeutet es für Sie und die Menschen in Spitzbergen, Teil der weltweiten LWB-Gemeinschaft zu sein?

Die meisten Menschen hier kennen den LWB gar nicht, aber ich spreche oft über diese weltweite Gemeinschaft lutherischer Kirchen. Ich erinnere die Menschen daran, dass jedes Kind, das ich taufe, Teil einer großen Kirchenfamilie, des Leibes Christi wird. Schon seitdem der erste Pfarrer hier in den 1920er Jahren eine Kirche gebaut und eine Schule eingerichtet hat, sind wir mit unserem Wirken immer auf die konkreten Bedürfnisse der Menschen eingegangen.

Aber aus den eigenen Familien herausgerissen zu sein und neue Freunde finde zu müssen, gibt den Menschen auch die großartige Chance, zu lernen, mit anderen Menschen zusammenzuleben. Meine Aufgabe ist es, genau das zu fördern und den Menschen zu helfen, die spirituelle und existenzielle Seite des Lebens hier zu erkunden.

 Ángel Valiente

Stimmen aus der Kirchengemeinschaft:

Der Lutherische Weltbund (LWB) ist eine weltweite Gemeinschaft, deren Mitglieder sich gemeinsam für das Werk und die Liebe Christi in der Welt einsetzen. In dieser Reihe präsentieren wir Kirchenleitende und Mitarbeitende, die über aktuelle Themen sprechen und Ideen entwickeln, wie Frieden und Gerechtigkeit in der Welt geschaffen werden und die Kirchen und die Gemeinschaft in ihrem Glauben und ihrem Engagement wachsen können.

Von LWB/P. Hitchen. Deutsche Übersetzung: Andrea Hellfritz, Redaktion: LWB/A. Weyermüller