Interview mit Ratsmitglied Bischof Henrik Stubkjær
Genf (LWI) – Henrik Stubkjær (56) spricht mit der Lutherischen Welt-Information über die Herausforderungen, die das Kirche-Sein in einer säkularisierten Gesellschaft mit sich bringt, und über neue Betätigungsfelder für das diakonische Engagement der Kirche.
Stubkjær ist seit 2014 Bischof der Bistums Viborg (359.000 Mitglieder), das eines der elf Bistümer der Evangelisch-Lutherischen Volkskirche in Dänemark mit 4,4 Millionen Mitgliedern. Davor war er von 2005 bis 2014 Generalsekretär von DanChurchAid, dem kirchlichen Hilfswerk in Dänemark.
Die dänische Kirche trägt Züge einer Staatskirche, ist ihrem Selbstverständnis nach aber eine Volkskirche. Ihr säkulares Oberhaupt ist die regierende Königin, Margrethe II von Dänemark. Jeder Bischof und jede Bischöfin ist das theologische Oberhaupt in seiner bzw. ihres jeweiligen Bistums. Das Amt des Erzbischofs gibt es nicht. Am 1. Januar 2017 waren 76 Prozent aller dänischen Bürgerinnen und Bürger Mitglied in der Evangelisch-Lutherischen Volkskirche in Dänemark.
Bischof Stubkjær, Delegierte der Evangelisch-Lutherischen Volkskirche in Dänemark haben – gemeinsam mit anderen – während der Zwölften LWB-Vollversammlung in Windhuk im vergangenen Jahr Themen angesprochen, die in zwei Resolutionen Ausdruck gefunden haben: der Resolution zu strategischen Prioritäten und Erneuerung der Kirchen und der Resolution über das Wesen der Kirche im Kontext und ihre Rolle in der Mission. Was sind die konkreten Anliegen, die diesen Appellen zugrunde liegen?
In Dänemark, in der LWB-Region Nordische Länder und in anderen europäischen Ländern erleben wir durch die Säkularisierung, durch postsäkulare Tendenzen und durch andere gesellschaftliche und demographische Faktoren große Veränderungen. Wenn wir diese Themen in der LWB-Gemeinschaft ansprechen, möchten wir eine breitere Diskussion über sie anstoßen.
Wir brauchen eine fundierte theologische Auseinandersetzung mit diesen Themenkomplexen. Wir stellen uns die Frage: Was können wir tun, damit die Kirche weiterhin Hoffnung verkörpern und vermitteln kann? Möglicherweise brauchen wir eine neue Strategie für unsere Missionsarbeit und für die diakonische Komponente des Kirche-Seins.
Ich hoffe sehr, dass der LWB die genannten Resolutionen aufgreifen und Foren schaffen wird, um über die Erfahrungen, die wir gerade machen, nachzudenken und sich auszutauschen.
Wie erleben Sie die Entwicklungen in der dänischen Kirche? Wie wird die Kirche in Ihrer Gesellschaft wahrgenommen?
Einerseits können wir sagen, dass es eine enge und starke Verbindung gibt zwischen Kirche und Gesellschaft. Offizielle Statistiken aus dem Januar 2017 zeigen, dass fast 80 Prozent der dänischen Bevölkerung Mitglied in der dänischen Volkskirche sind. Der prozentuale Anteil reicht dabei von 58 Prozent im Bistum Kopenhagen bis 85 Prozent im Bistum Viborg. Die Mitgliederzahlen sind stabil und mit weniger als einem Prozent pro Jahr nur leicht rückläufig. Die meisten Jugendlichen besuchen den Konfirmandenunterricht und etwa zwei Drittel der Ehen werden in der Kirche geschlossen.
Gleichzeitig ist es aber eine unserer größten Herausforderungen, den Menschen zu zeigen, dass wir als Kirche für sie relevant und wichtig sind. Viele Menschen sind zwar Mitglied in der Kirche, aber in ihrem Alltag spielt sie kaum eine Rolle. Nur wenige kommen am Sonntag in den Gottesdienst. Mit den Worten: „Die Kirche sollte für mich da sein, wenn ich sie brauche“, könnte man diese Grundhaltung zusammenfassen.
Man könnte vielleicht sogar sagen, dass die Säkularisierung in Dänemark so weit fortgeschritten ist, dass die Menschen nicht einmal mehr negative Gefühle der Kirche gegenüber haben. Für sie ist die Kirche interessant. Noch vor 20 Jahren haben wir viel mehr Widerstand gegen die Kirche erlebt.
Wo und wie kann die Kirche dann wieder relevanter sein?
In unserer dänischen Gesellschaft sind viele Menschen sehr gestresst und stehen unter großem Druck: Man muss immer besser und schneller werden. Und viele Menschen werden bei diesen Anforderungen irgendwann krank. Der Gedanke dahinter ist: Du bist, was du tust oder produzierst – nur die Leistung zählt.
Als Kirche haben wir eine andere Perspektive: Du wurdest geschaffen, du bist einzigartig, Gott liebt dich, du bist niemals ganz allein. Der wichtigste Aspekt deiner Identität wurde dir geschenkt. Ich bin überzeugt, dass die Menschen in Dänemark verstehen müssen: Du bist mehr als deine Leistung. Du bist befreit durch Gottes Gnade.
Versuchen Sie vor diesem Hintergrund Menschen auf neue Art und Weise anzusprechen und auf neuen Wegen zu erreichen?
In meinem Bistum haben wir acht Visionen formuliert – eine davon heißt: „Gelegenheiten nutzen“.
Bisher war Mission in unserem eigenen Land nie ein Arbeitsschwerpunkt. Heute müssen wir umdenken. Unsere Pfarrerinnen und Pfarrer haben beispielsweise begonnen, junge Eltern, die Mitglied in der Kirche sind, ganz gezielt anzusprechen. Sie besuchen sie und laden sie ein, ihre Kinder taufen zu lassen, und beantworten alle Fragen rund um dieses Thema. Die Mitglieder der Kirche, die ihre Kinder nicht taufen lassen, sagen, dass ihr Kind das selbst entscheiden soll, wenn es alt genug ist. Unsere neue, ausdrücklich einladende Herangehensweise war bisher nicht üblich.
Für junge Menschen – für die die Kirche weitgehend unsichtbar ist – haben wir ein neues Online-Seelsorge- und Beratungsprojekt gestartet. Sie können anrufen oder in einem Online-Chat mit einem Pfarrer oder einer Pfarrerin kommunizieren. Das kommt so gut an, dass wir gar nicht hinterherkommen. Weil sie jetzt das Internet als Kommunikationsweg benutzt, ist die Kirche wieder relevant für diese jungen Menschen.
Mit dem Thema Diakonie kennen Sie sich sehr gut aus. Welche Entwicklungen sind hier in Dänemark zu beobachten? Vor welche Herausforderungen stehen Sie?
Lokale Politikerinnen und Politiker erleben, dass die Wirtschaft und die Sozialsysteme unter großem Druck stehen. Zum Beispiel hat sich unser Krankenhaussystem stark verändert. Es gab einen Zentralisierungsprozess durch den so genannte „Super-Krankenhäuser“ entstanden sind und viele kleinere Krankenhäuser geschlossen wurden.
Gleichzeitig ist die Zeit, die ein Patient durchschnittlich in einem Krankenhaus verbringt, auf 18 Stunden gesunken. Das bedeutet, dass die Menschen nach einer Behandlung sehr schnell wieder nach Hause geschickt werden. Dem Zentralisierungsprozess steht also in der Konsequenz eine gleichzeitige enorme Dezentralisierung gegenüber. Statt im Krankenhaus gesund gepflegt zu werden, liegen die Menschen nun Zuhause in ihren Betten. Oftmals gibt es niemanden, der sie pflegt oder bei den grundlegenden Dingen des täglichen Lebens hilft.
Jetzt wenden sich die Politikerinnen und Politiker mit der Frage an die Kirche, ob sie diese Menschen besuchen und sich um ihre Bedürfnisse kümmern könne. Ich sehe dies als eine neue Möglichkeit für uns als Kirche, Kirche zu sein. Darüber hinaus gibt es das Problem der zunehmenden Vereinsamung der Menschen. Das betrifft nicht nur die Menschen in den Städten, sondern auch die in den ländlichen Gegenden.
Die diakonische Arbeit in Dänemark war bisher hauptsächlich die Aufgabe großer Diakonie-Organisationen. Ich glaube, wir erleben da gerade eine Veränderung. Diakonische Arbeit verlagert sich wieder stärker in die Ortsgemeinden und nimmt wieder mehr die Form der Nachbarschaftshilfe an.
Sie glauben also, das Evangelium hat im 21. Jahrhundert eine neue Bedeutung gewonnen?
Vor 20 Jahren hat die intellektuelle Elite verkündet, dass die Zeit der Religion und der Kirchen vorbei sei. Aber sie haben die Zeichen falsch gedeutet. Vielmehr stellen die Menschen fest, dass die Spiritualität ein wichtiger Teil ihres Lebens ist.
Wir dachten, dass die Gesellschaft alle sozialen Veränderungen bewältigen und regeln kann – aber wir müssen feststellen, dass die verwundbarsten Mitglieder der Gesellschaft durch fehlende wirtschaftliche Ressourcen abgehängt wurden, und das verlangt nach neuen Formen des diakonischen Engagements.
Für die Kirchen in Europa sind es schwierige Zeiten. Aber gleichzeitig ist es auch eine Zeit der Chancen und Möglichkeiten. Menschen in einer Gesellschaft, die oft als sehr wettbewerbsorientiert gesehen wird, brauchen die befreiende Nachricht des Evangeliums: Gott liebt dich schon bevor du irgendwas erreicht oder geschaffen hast. Die anderen Menschen sind keine Konkurrenten, sondern deine Nächsten.
Das Evangelium richtet eine wichtige Botschaft an die Welt gegen gesellschaftliche Ausgrenzung und die wachsende Kluft zwischen dem globalen Norden und dem globalen Süden. Und wir, die wir daran glauben, dass Gott die Welt geschaffen hat, müssen beim Thema Klimawandel dringend die Stimme erheben.
Die Botschaft des Evangeliums ist nach wie vor von großer Bedeutung. Das müssen wir uns nur klar machen und dann auch entsprechend handeln.
Stimmen aus der Kirchengemeinschaft:
Der Lutherische Weltbund (LWB) ist eine weltweite Gemeinschaft, deren Mitglieder sich gemeinsam für das Werk und die Liebe Christi in der Welt einsetzen. In dieser Reihe präsentieren wir Kirchenleitende und Mitarbeitende, die über aktuelle Themen sprechen und Ideen entwickeln, wie Frieden und Gerechtigkeit in der Welt geschaffen werden und die Kirchen und die Gemeinschaft in ihrem Glauben und ihrem Engagement wachsen können.
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