Schweden: Reformation, Versöhnung und Gendergerechtigkeit

15. Jul. 2022

Interview mit Antje Jackelén, Erzbischöfin der Schwedischen Kirche

Antje Jackelén ist Erzbischöfin der Schwedischen Kirche und LWB-Vizepräsidentin für die Region Nordische Länder. Foto: LWB/Albin Hillert

Antje Jackelén ist Erzbischöfin der Schwedischen Kirche und LWB-Vizepräsidentin für die Region Nordische Länder. Foto: LWB/Albin Hillert

Interview mit Antje Jackelén, Erzbischöfin der Schwedischen Kirche

UPPSALA, Schweden/GENF (LWI) – Es habe so viele Höhepunkte gegeben seit Erzbischöfin Antje Jackelén 2014 ihr Amt als Oberhaupt der Schwedischen Kirche angetreten hat, dass es ihr schwerfalle, alle zu benennen. Sie hat Päpste, Patriarchen, Präsidentinnen und Präsidenten und Premierministerinnen und Premierminister getroffen. Und sie benennt die Bitte um Vergebung, die sie dem in Schweden indigenen Volk der Sami stellvertretend übermittelt hat, wenn sie über die wichtigsten Momente der vergangenen acht Jahren ihrer Amtszeit spricht.

Aber Jackelén, die auch Vizepräsidentin des Lutherischen Weltbundes (LWB) für die Region Nordische Länder ist, hat auch schwierige Zeiten erlebt. Anfang 2021 beispielsweise hat die eigentlich in den sozialen Medien sehr präsente Erzbischöfin angekündigt, dass sie sich aufgrund „der Drohungen und des Hasses und der Lügen“, denen sie durch Menschen ausgesetzt war, die ihre Ansichten zur Integration von Migrantinnen und Migranten in die schwedische Gesellschaft vehement ablehnten, vorübergehend von Twitter verabschieden würde.

Derzeit bereitet sich Jackelén auf das Ende ihrer Amtszeit im Herbst dieses Jahres vor. Sie blickt in diesem Interview auf die wichtigsten Momente in dieser Amtszeit zurück und spricht über die Herausforderungen, mit denen sie als erste Frau an der Spitze ihrer Kirche konfrontiert war. 

Sie werden Ihr Amt als höchste Repräsentantin der Schwedischen Kirche am 30. Oktober dieses Jahres niederlegen – was waren für Sie persönlich die wichtigsten Ereignisse Ihrer Amtszeit?

Da muss ich an erster Stelle 2016 und die gemeinsamen Feierlichkeiten zum 500-jährigen Reformationsjubiläum in Lund nennen. Ich habe während der Vorbereitungen sehr viel gelernt. Es war wichtig, dass lutherische und römisch-katholische Gläubige dieses Jubiläum zusammen feiern, gemeinsam den durch unsere Spaltung verursachten Schmerz und das dadurch verursachte Leid beklagen und gemeinsam Dank sagen konnten für das Evangelium und die vielen Dinge, die uns gemein sind. 

Dadurch konnte die Reformation vielerorts in der Welt als Christusfest gefeiert werden und nicht als ein Ausdruck von Spaltung. Auch der Gottesdienst im Dom zu Lund, und die folgende Veranstaltung in der Arena von Malmö unter der Überschrift „Together in Hope“ (Zusammen voller Hoffnung) haben sehr schön zum Ausdruck gebracht, dass Worte und Taten, Gottesdienst und Diakonie immer Hand in Hand gehen müssen.

Archbishop Jackelén and Pope Francis embrace during the joint commemoration of the Reformation in Lund Cathedral. Photo M. Ringlander/Church of Sweden

Erzbischöfin Jackelén and Papst Franciskus umarmen sich während der Feierlichkeiten zum 500-jährigen Reformationsjubiläum in Lund Cathedral. Foto M. Ringlander/Church of Sweden

Ich habe so viele wichtige ökumenische Treffen und Begegnungen erlebt: Neben Papst Franziskus habe ich den koptischen Papst Tawadros, den Ökumenischen Patriarchen Batholomäus und Patriarch Aphrem von der Syrisch-Orthodoxen Kirche getroffen. Außerdem durfte ich in viele Länder reisen – auch in Länder, in denen die Kirche unter struktureller Diskriminierung oder schlimmerem leidet. Ich hoffe, dass ich einige der gewonnen Erkenntnisse auch in meiner Kirche vermitteln konnte.

Auch die Initiative „A World of Neighbours“ [Eine Welt der Nächstenliebe], die die Schwedische Kirche ins Leben gerufen hat, ist mir sehr wichtig. Angefangen hat alles mit der Idee, dass zwei Menschen durch Europa reisen könnten, um Menschen zu treffen, die sich an der Basis vor Ort für Menschen einsetzen, die auf der Flucht sind. Dies hat dann ganz bewusst schnell eine interreligiöse Dimension angenommen und ein Netzwerk von praktisch engagierten Fachleuten geschaffen, die dabei helfen konnten, weitere Menschen in ihrem Fachgebiet zu schulen. 

Im Februar haben wir ein Gipfeltreffen veranstaltet, das am 24. Februar zu Ende ging – dem Tag, als Russland in die Ukraine einmarschiert ist. Es hat mir viel bedeutet, mit diesen engagierten Fachleuten zusammenzusitzen. Sie leisten erstklassige Arbeit und das oftmals mit sehr begrenzten Mitteln. Leider beendet die Schwedische Kirche ihr aktives Engagement als Triebkraft dieser Initiative, aber das Netzwerk wird es weiterhin geben und es ist großartig zu sehen, dass es ein Eigenleben entwickelt hat.

Archbishop Jackelén sits behind Sami leaders in Uppsala Cathedral during an official apology from the Church of Sweden. Photo: Magnus Aronson / Icon

Erzbischöfin Jackelén sitzt hinter Sami Anführern in Uppsala Cathedral während einer öffentlichen Entschuldigung der Schwedischen Kirche. Foto: Magnus Aronson / Icon

Auch die Initiative „A World of Neighbours“ [Eine Welt der Nächstenliebe], die die Schwedische Kirche ins Leben gerufen hat, ist mir sehr wichtig. Angefangen hat alles mit der Idee, dass zwei Menschen durch Europa reisen könnten, um Menschen zu treffen, die sich an der Basis vor Ort für Menschen einsetzen, die auf der Flucht sind. Dies hat dann ganz bewusst schnell eine interreligiöse Dimension angenommen und ein Netzwerk von praktisch engagierten Fachleuten geschaffen, die dabei helfen konnten, weitere Menschen in ihrem Fachgebiet zu schulen. 

Im Februar haben wir ein Gipfeltreffen veranstaltet, das am 24. Februar zu Ende ging – dem Tag, als Russland in die Ukraine einmarschiert ist. Es hat mir viel bedeutet, mit diesen engagierten Fachleuten zusammenzusitzen. Sie leisten erstklassige Arbeit und das oftmals mit sehr begrenzten Mitteln. Leider beendet die Schwedische Kirche ihr aktives Engagement als Triebkraft dieser Initiative, aber das Netzwerk wird es weiterhin geben und es ist großartig zu sehen, dass es ein Eigenleben entwickelt hat.

Weiterhin muss ich den „Wahrheits- und Versöhnungsprozess“ mit dem Volk der Sami nennen, den es schon sehr viel länger gibt, als ich Erzbischöfin war. Aber trotzdem: Ich konnte in meiner Zeit als Erzbischöfin im Rahmen eines Gottesdienstes im Dom von Uppsala, dem symbolischen Machtzentrum unserer Kirche, offiziell um Vergebung bitten. Wir werden diese Bitte in Sápmi auf einer Konferenz in Luleå vom 21. bis 23. Oktober noch einmal wiederholen; und wir sind fest entschlossen, uns unermüdlich für die Umsetzung der eingegangenen Selbstverpflichtungen einzusetzen, auf die wir uns geeinigt haben. Es ist ein andauernder Prozess, aber ich bin dankbar, dass wir diese wichtigen ersten Schritte gemacht haben.

Ich bin auch sehr dankbar, dass in den letzten Jahren das Bewusstsein dafür gewachsen ist, dass die Klimakrise auch eine spirituelle und existenzielle Krise ist – auch das ist eine wichtige Entwicklung, bei der die Kirche eine wichtige Rolle gespielt hat.

Und trotzdem sind Sie in den sozialen Medien für Ihre Ansichten und Standpunkte angegangen worden und mussten sich wegen der Hetze, der Sie ausgesetzt waren, von Twitter zurückziehen, nicht wahr?

Ja, die Hetze war eine große Herausforderung, weil sich die Social-Media-Plattformen in den letzten Jahren sehr schnell entwickelt haben und es inzwischen so viele gibt. Ich bin die erste Erzbischöfin der Schwedischen Kirche, seit diese Plattformen von so vielen Menschen genutzt werden. Man darf nicht vergessen: auch als der Buchdruck ganz neu war, wurden nicht nur schöne und gehaltvolle Bücher gedruckt, sondern auch Flugblätter mit Hassbotschaften. Und wir wissen auch, dass selbst Martin Luther davor nicht gefeit war! 

Es ist außerdem bekannt, dass Frauen in Leitungspositionen solcher Hetze mehr ausgesetzt sind als Männer. Das Problem dabei ist nicht nur, dass man nicht nur selbst der Adressat dieser Hassbotschaften ist, sondern dass es sich auch auf alle Menschen auswirkt, die einem in den sozialen Medien folgen. Hassbotschaften und Hetze können dafür sorgen, dass unsere Ansichten zu polarisieren scheinen, obwohl wir eigentlich nur für die von der breiten Mehrheit anerkannten christlichen Werte eintreten. Daher braucht es viel Kraft und Einsatzbereitschaft, fokussiert zu bleiben und der Selbstzensur zu widerstehen. 

Was würden Sie anderen raten, die auf ähnliche Weise angegangen werden?

Es ist immer gut, wenn man Menschen hat, mit denen man reden kann. Wenn man allein ist, ist es schwer, realistisch zu bleiben. Andere Menschen helfen einem, die eigene Resilienz zu stärken. Aber es gibt Situationen, in denen es richtig ist, eine Pause zu machen und einzuschränken, wer Tweets kommentieren darf. Für mich war das schwierig, denn anderen Menschen zuzuhören und empathisch zu sein, ist für mich Teil meiner Identität als Pfarrerin. Aber die sozialen Medien haben mich gezwungen, mir ein Schutzschild zuzulegen, um mich selbst zu schützen.

Mit Ihnen wurde zum ersten Mal eine Frau zum Oberhaupt Ihrer Kirche gewählt. Haben Sie in Ihrer Kirche und der lutherischen Welt allgemeiner seither Fortschritte im Hinblick auf die Rechte von Frauen beobachten können?

In der Foto-Ausstellung zum 75-jährigen Bestehen des LWB gibt es ein wunderschönes Foto von Prasanna Kumari, die in Chicago promovierte, als ich dort als Professorin am Seminar für lutherische Theologie tätig war. Ich habe gehört, dass sie sich gegen großen Widerstand dafür eingesetzt hat – auch im LWB –, dass Frauen in die Entscheidungsprozesse einbezogen werden, daher glaube ich das seither viel passiert ist. Ich bin überzeugt, dass das Engagement für Gendergerechtigkeit wichtig ist, und dass es viele Fortschritte bewirkt hat. Aber es hat auch Rückschläge gegeben. 

Ich freue mich sehr über die jüngste Ordination der ersten Frauen in der polnischen Kirche und ich erinnere mich auch noch gut daran, wie sehr sich die Menschen gefreut haben, als ich gewählt wurde. Wir dürfen dieses Gefühl der Freude nicht vergessen, aber die patriarchalen Reflexe sitzen tief und konnten über Jahrhunderte Wurzeln schlagen, daher dürfen wir nicht aufhören zu kämpfen und dürfen nichts als selbstverständlich ansehen.

Was würden Sie Frauen raten, die in der Kirche immer noch unter Diskriminierung leiden?

Ich bin überzeugt, dass die Partnerschaft zwischen Frauen und Männern für diese Arbeit sehr wichtig ist, und dass es Vorbilder gibt. Wir müssen unsere Vorstellungen von Männlichkeit modernisieren und wir dürfen nicht unterschätzen, wie sehr solche Narrative auch Einstellungen und Haltungen beeinflussen können. Auch wenn es Rückschläge gibt, ist es wichtig, die Hoffnung nicht zu verlieren, und sich immer wieder bewusst zu machen, dass die Bewegung hin zu Gleichberechtigung auf lange Sicht irreversibel ist.

Das Patriarchat ist eines der destruktiven „fünf P“, von denen Sie oft sprechen [neben Populismus, Polarisierung, Protektionismus und Postfaktizität]. Welches P beunruhigt Sie am meisten und was kann die Kirche gegen alle fünf tun?

Die destruktiven Synergien dieser fünf Elemente sind in meinen Augen am beunruhigendsten. Ich glaube aber, dass die Kirche in vielerlei Hinsicht dazu beitragen kann, ihnen entgegenzuwirken und sie zu hinterfragen. Um Polarisierung entgegenzuwirken, brauchen wir eine gesunde Kultur der Meinungsverschiedenheit. Das Gegenteil von Polarisierung ist nicht Einheit oder Homogenität, sondern eine gesunde Art und Weise, mit Meinungsverschiedenheiten umzugehen; und eine solche Kultur müssen wir fördern. 

Populismus funktioniert, weil er negative Emotionen bedient; deshalb müssen wir mehr auf Tatsachen bestehen. Auch gegen Protektionismus können wir uns dadurch zur Wehr setzen, dass wir eine globale Gemeinschaft sind, den ökumenischen und interreligiösen Dialog fördern und mit anderen Religionen zusammen Solidarität für die bedürftigen Menschen unter uns zeigen. Wir alle wissen, dass es viel Kraft und Mut braucht, um den Mächtigen gegenüber in komplexen Situationen für die Wahrheit einzutreten. Auch hier können wir dank unserer lutherischen Hermeneutik und der Art und Weise, wie wir die Bibel auslegen, viel beitragen. 

Archbishop Jackelén speaks at Geneva’s Ecumenical Center during the 2019 launch of an LWF publication entitled ‘Resisting Exclusion: Global theological responses to populism’. Photo: LWF/S. Gallay

Erzbischöfin Jackelén spricht 2019 im Geneva’s Ecumenical Center während der Veröffentlichung der Publikation ‘Resisting Exclusion: Global theological responses to populism’. Foto: LWF/S. Gallay

In Bezug auf das Patriarchat ist unser Glaube in der Überzeugung verwurzelt, dass Gott alle Menschen mit der gleichen Würde geschaffen hat, und wir kennen viele Beispiele, dass Jesus auch mit Frauen interagiert hat. Nehmen wir zum Beispiel die Geschichte von der syrophönizischen Frau, die Jesus bat, den Dämon aus ihrer Tochter auszutreiben. Zunächst schlägt er ihre Bitte ab und sagt, er sei nur gekommen, um das Volk Israel zu heilen, und dass es nicht recht sei, ihnen das Brot wegzunehmen und es vor die Hunde zu werfen. Als sie aber darauf besteht, dass selbst die Hunde ein Recht auf die Krumen haben, die von des Herren Tisch fallen, hilft sie Jesus zu verstehen, dass seine Mission nicht lokal begrenzt, sondern global ist. Wir können also sagen, dass sie den Lauf der Geschichte verändert hat und die erste Vorkämpferin für eine „glokale“ Theologie war. Es gibt viele Geschichten wie diese. Sie wollen uns Mut machen und uns zurüsten, die Hoffnung zu bewahren, die uns zum Handeln bewegt.

Sie sprechen oft über Narrative der Hoffnung. Was aber sagen Sie all jenen, die beunruhigt sind durch die zunehmenden Konflikte in der Welt, den Krieg in der Ukraine und andere Formen von Ungerechtigkeit?

Es gibt Momente, da fühlen wir alle uns schnell entmutigt, und es ist richtig, diesem Gefühl der Entmutigung Ausdruck zu verleihen. In schwierigen Zeiten wird mir immer wieder bewusst, wie oft ich auf die Psalmen zurückgreifen und mich über die vielen Gefühle freue, die mir dort begegnen. In Zeiten von Chaos und in Krisen, wenn mich Kummer und Wut erfüllen, ich frustriert bin oder sogar, wenn ich den Wunsch nach Rache verspüre, ist es richtig, das alles vor Gott zu bringen und dafür zu beten, dass Gott uns den Weg weisen und unsere Angst in Hoffnung und von Liebe geprägtes Handeln verwandeln wird.

Welche Bedeutung hat es für Sie, Teil der weltweiten Gemeinschaft von Kirchen im LWB zu sein?

Das wird mir immer wichtiger und ich glaube, dass das Bewusstsein dafür in der Schwedischen Kirche allgemein zugenommen hat. 2017 haben wir eine neue Agende eingeführt, die insbesondere in der Taufliturgie mehr betont, dass wir Teil der weltweiten Kirche sind. Wir erfahren auch mehr von den Kirchen im globalen Süden und erleben, dass wir gemeinsam unterwegs sind, voneinander lernen und unser Verständnis verbessern, einen gemeinsamen Auftrag zu haben.

Erlauben Sie abschließend noch die Frage, was Sie vorhaben, wenn Sie Ihr Leitungsamt im Herbst niederlegen?

Ich werde bis zur nächsten Vollversammlung LWB-Vizepräsidentin bleiben. Ich freue mich darüber hinaus, mich mehr meiner Rolle als Co-Vorsitzende bei Religions for Peace widmen zu können. Außerdem habe ich aus meiner Vergangenheit als Wissenschaftlerin in den Bereichen Naturwissenschaft und Religion heraus ein großes Interesse am Thema Digitalisierung. In der schwedischen Gesellschaft ist das Verhältnis von Technologie und Theologie derzeit ein ganz heißes Thema, daher hoffe ich, da noch etwas tiefer einzutauchen. Und ich unterrichte sehr gerne und hoffe, dass sich da vielleicht noch weitere Möglichkeiten ergeben.

LWF/P. Hitchen