Estland: Seminare inspirieren zu kontinuierlicher Reformation
TALLIN, Estland/GENF (LWI) – Das Theologische Institut der Estnischen Evangelisch-Lutherischen Kirche (EELK) hat anlässlich des Reformationsjubiläums innovative Bildungsangebote entwickelt, die Dutzenden Studierenden, Geistlichen und anderen kirchlichen Mitarbeitenden vertiefte Kenntnisse über die lutherische Kirche auf der örtlichen sowie der Weltebene vermitteln.
Grundlage der Angebote sind vier Publikationen, die der Lutherische Weltbund (LWB) zum 500. Reformationsjubiläum 2017 herausgegeben hat. Das estnische Institut hat die Publikationen übersetzt, um so den Mitgliedern der EELK das darin präsentierte Wissen über die Breite und Vielfalt der weltweiten lutherischen Kirchengemeinschaft zugänglich zu machen.
„Am bedeutsamsten in diesem Studienprozess war für die Teilnehmenden sicherlich, sich der weltweiten Dimension der lutherischen Kirche, der Vielfalt ihrer Kontexte aber auch des gemeinsamen Grundverständnisses bewusst zu werden“, erläutert Thomas-Andreas Põder, Professor für Systematische Theologie am Institut. „Es war uns sehr wichtig, das Reformationsjubiläum in der hiesigen lutherischen Kirche und in der estnischen Gesellschaft so zu feiern, dass wir damit zum Brückenschlag zwischen unserer Kirche hier vor Ort und der weltweiten lutherischen Kirchengemeinschaft beitragen.“
Man gehe zwar nicht davon aus, dass das Thema zum Reformationsjubiläum, „Befreit durch Gottes Gnade“, samt seinen Unterthemen, die darauf verweisen, dass Erlösung, Schöpfung und Menschen für Geld nicht zu haben sind, in der stark säkularisierten estnischen Gesellschaft unmittelbar auf großes Interesse stoßen wird, führt Põder aus. Die Themen böten jedoch Einsichten, die es wert seien, dass im Land über sie nachgedacht und diskutiert werde.
„Innerhalb der Kirche ist das Thema ‚Befreit durch Gottes Gnade‘ zweifellos aufgegriffen und auf vielfältige Weise reflektiert worden. Aber vor allem kann man feststellen, dass das Thema uns Grundlagen und Hilfestellung für das Reformationsgedenken in unserem Kontext gegeben hat.“
Die LWB-Broschüren in estnischer Sprache werden 2016/17 innerhalb des Programms „Befreit durch Gottes Gnade. Zum lutherischen Verständnis von Chancen und Herausforderungen des christlichen und kirchlichen Lebens heute“ in vier verschiedenen Seminaren bearbeitet.
Weiterhin finden die Broschüren Verwendung in Seminaren zu den Themen „Kirchen und Theologie am Beginn des dritten Jahrtausends“ sowie „Kirche und Christentum im 21. Jahrhundert“.
Chancen und Herausforderungen kirchlichen Lebens
Die estnische Ausgabe der Publikationen wurde im Oktober 2016 im Rahmen einer zweitägigen, hochrangig besetzten Konferenz mit 200 Teilnehmenden unter dem Titel „Reformation 500 – Spiritualität, kulturelle Wirkung, Perspektiven“ vorgestellt. Das Institut, so Põder, wird sie auch in Zukunft weiter einsetzen.
„Ziel der Konferenz war die Vermittlung eines vertieften, genaueren Verständnisses von den Chancen und Herausforderungen des christlichen und kirchlichen Lebens heute“, erläutert Põder.
Die Seminare auf der Grundlage der LWB-Broschüren „Erlösung – für Geld nicht zu haben“, „Menschen – für Geld nicht zu haben“ und „Schöpfung – für Geld nicht zu haben“ setzen sich mit Möglichkeiten lutherischer Identität im globalen wie im estnischen Kontext des 21. Jahrhunderts auseinander.
Im 16. Jahrhundert entfaltete die lutherische Reformation in der estnischen Kultur und Gesellschaft, samt ihrer Sprache und Literatur, tiefgreifende Wirkung. Ein Fragment des 1535 in Wittenberg gedruckten Katechismus von Wanradt und Koell ist der älteste noch erhaltene Beleg eines in estnischer Sprache veröffentlichten Buches.
Während der Zeit der sowjetischen Besatzung Estlands wurden kirchliche Aktivitäten per Gesetz eingeschränkt und waren meistens auf die liturgische Ebene reduziert. Der christliche Glaube konnte in Estland nur noch in der Privatsphäre praktiziert werden. Seit das Land vor 25 Jahren seine Unabhängigkeit erlangte, ist die EELK mit ihren 160.000 Mitgliedern bemüht, in der estnischen Gesellschaft wieder verstärkt Präsenz zu zeigen. Innerhalb einer Bevölkerung von 1,3 Millionen Menschen gehören nur 30 Prozent einer christlichen Konfession an. Die Kirchenglieder müssten sich jedoch noch stärker bewusst machen, dass Kirche und Glauben auch eine öffentliche Rolle haben, betont Põder.
Dankbarkeit und Ermutigung
„Luthers grundlegende theologische Erkenntnis, dass die Gnade Gottes uns als kostbare Gabe ohne Gegenleistung geschenkt ist, aus der Dankbarkeit und die Ermutigung erwachsen, nicht nur im privaten Bereich sondern auch in der Öffentlichkeit als Christinnen und Christen zu leben, ist heute so hilfreich wie zur Zeit der Reformation“, bekräftigt Põder.
Er betont, dass die Teilnehmenden der Seminare gerne die Gelegenheit genutzt haben, vor dem Hintergrund ihres eigenen Kontexts mit den Broschüren zu arbeiten. Ihre Aufsätze, von denen einige in dem beliebten Magazin Kirik & Teoloogia („Kirche und Theologie“: http://kjt.ee/eng, Informationen in englischer Sprache) veröffentlicht wurden, befassten sich mit Aspekten einer ausgewogenen Lebensführung sowie Möglichkeiten für ein Zeugnis im europäischen Kontext, das anders geprägte Menschen ernst nimmt.
Weiterhin behandelten sie das Verständnis von Sünde und Rechtfertigung, aber auch Aspekte der europäischen Politik, Gesellschaft und Kultur, sowie Fragen von Leitung und Teilhabe in der Kirche, Umweltschutz und Diakonie.
„Die von der Reformation wiederentdeckten Grundprinzipien können also weiterhin eine bedeutende Quelle der Inspiration für die fortdauernde Reformation sein, die Möglichkeiten für ein sinnerfülltes christliches Leben heute eröffnen will“, schließt Põder.