Polen beherbergt 1,5 Millionen offiziell gemeldeter Flüchtlinge aus der Ukraine. Zwanzig leben in Bethanien, einer Ferienunterkunft der Evangelisch-Augsburgischen Kirche in Polen in der Diözese Cieszyn in der Nähe von Bielsko-Biala.
LWB-Mitgliedskirche in Polen gibt Flüchtlingen ein Zuhause
(LWI) – „Ich aber und mein Haus wollen dem Herrn dienen.“ Das Bibelzitat aus Josua 24,15 im Inneren eines Bogengangs des Bethanien-Hauses im Stadtteil Wapienica von Bielsko-Biala ist abgewetzt. Zu Zeiten des Kommunismus, als es auf Ablehnung stieß, wenn man sich zur Kirche bekannte, gab der Spruch den Besuchenden des Hauses Kraft. Das Haus diente als Urlaubsdomizil für lutherische Kinder in Schlesien. Vor drei Jahren erwarb die Diözese Cieszyn der Evangelisch-Augsburgischen Kirche in Polen das Haus für einen ähnlichen Zweck. Im März 2022 wurde Bethanien zu einem Heim für Menschen, die vor dem Krieg in der Ukraine geflüchtet sind – sieben Familien sind inzwischen hier untergebracht.
Eine davon nahm am lutherischen Sonntagsgottesdienst in der kleinen Kapelle teil: Nataliia Bakumenko und ihr Sohn. Nataliia stammt aus Pryluky und arbeitet jetzt mit ukrainischen Flüchtlingen im LWB-Gemeindezentrum in Bielsko-Biała. Der zehnjährige Artem bleibt lieber bei seiner Mutter als mit den anderen Kindern in den Kindergottesdienst zu gehen. Die Familie ist orthodox, und die Teilnahme an den lutherischen Gottesdiensten jeden zweiten Sonntag geschieht auf Wunsch von Artem. „Er erzählte mir, dass er nach dem Kirchenbesuch keine Albträume hat“, sagt Nataliia.
„Mein Sohn ist hier sicher“
Die Heimatstadt von Nataliia und Artem liegt im Oblast Tschernihiw in der Nähe der russischen Grenze, wo der LWB-Weltdienst aktuell Gemeinden durch die Wiederherstellung wichtiger Infrastrukturen unterstützt. Nataliia und ihr Sohn haben die dortige Zerstörung nicht mitbekommen, sie sind bereits in den ersten Kriegstagen geflohen. „Der Weg der eindringenden Armee führte durch unsere Stadt“, sagt Nataliia. „Zuerst war ich nicht sicher, ob Weggehen die richtige Entscheidung ist, aber als wir hier ankamen, sagte mein Sohn: Mama, ich kann aus dem Fenster rausschauen. Es ist nicht mehr gefährlich. Da wusste ich, dass ich das richtige getan hatte. Mein Sohn ist hier sicher.“
In der Kirchengemeinde werden die Ukrainerinnen und Ukrainer nicht als Flüchtlinge bezeichnet, sondern als Gäste. „Das klingt meiner Meinung nach freundlicher“, sagt der Vikar und Assistent des Bischofs Adam Bujok, der an diesem Tag den Gottesdienst leitet. „Das Wort Flüchtling schafft Distanz. Im Wort Gäste gibt es keine Distanz.“
„Pan Adam“ ist eine der Hauptkontaktpersonen, wenn ukrainische Familien etwas brauchen, wenn es Probleme gibt und wenn jemand reden möchte. Bisher bat man ihn eher um praktische Hilfe als um spirituelle Unterstützung. „Das muss von ihnen ausgehen“, sagt Bujok. „Im Moment ist diakonische Arbeit das Beste, was wir für sie tun können.“
Raum und Privatsphäre
Jede Familie hat einen Raum für sich. Eine Küche, ein Esszimmer und ein paar andere Räume zum Arbeiten, Lernen und Spielen nutzen sie gemeinsam. Nur drei Kinder gehen auf die staatliche Schule in Polen; die anderen nehmen online am ukrainischen Unterricht teil. Lia (8) und Timur (10) kamen mit ihrer Großmutter aus der Stadt Enerhodar im Oblast Saporischschja nahe des Atomkraftwerks.
Anfangs entschied sich die Familie dafür, in der Ukraine zu bleiben. Doch im September 2022 ging Timur Milch kaufen und wurde beinahe von einer Granate getroffen. „Ich war mit dem Fahrrad unterwegs. Ich hörte Explosionen und fuhr schneller. Dann sah ich eine Menge Menschen. Als ich näherkam, sah ich eine Person blutend am Boden liegen. Menschen schrien und überall war zerbrochenes Glas. Mitten in der Stadt brannte ein Baum; die Explosion hatte den Hund eines Mannes weggeschleudert. Ein Krankenwagen kam und nahm den Mann mit, der da am Boden lag. Es war einer der Arbeiter aus dem Kraftwerk, und die Leute sagten, er ist gestorben.“ Timur spricht mit leiser Stimme. Noch ein halbes Jahr später erinnert er sich an jede Einzelheit des Erlebten. Die Kinder bauten danach militärische Kontrollpunkte aus Lego, sagt seine Großmutter.
Timur hätte gerne eine Katze. Er möchte ein Soldat sein und sein Land verteidigen. In Bethanien gibt es keine Katze, doch eine Familie kaufte sich ein Kaninchen. Timur und Artem verbringen ihre Zeit miteinander: die Jungen toben durchs Haus und spielen am nahegelegenen Fluss.
Gegenseitige Unterstützung
Es sei eine große Erleichterung, dass sie einen Platz zum Leben haben und dass andere ukrainische Familien in unmittelbarer Nähe sind, sagt Nataliia Zhuzha, die Großmutter von Lia und Timur. Sie betreut die Kinder bereits seit fünf Jahren. Daheim hatte sie Unterstützung von anderen Familienmitgliedern und ihrem Sohn. Jetzt ist die Familie über ganz Europa verstreut: die Familie ihrer Tochter befindet sich in den Niederlanden, und ihr Sohn, der Vater der Kinder, ist in der Armee. „Ich kann nicht krank sein. Ich bin jetzt für sie Mutter, Vater und Großmutter“, sagt sie. Auch passt sie nach der Schule auf Artem auf, wenn dessen Mutter beim Arbeiten ist. In Bethanien bildete sich eine neue Gemeinschaft aus alleinerziehenden Eltern, die sich gegenseitig unterstützen und einander mit der Kinderbetreuung helfen.
Möbel, Spielzeug, Artikel für den täglichen Gebrauch: viele Ehrenamtliche und Geldspendende zogen an einem Strang, um den Gästen in Bethanien zu helfen. Ein ganzes Zimmer ist mit Artikeln für den Alltagsgebrauch gefüllt, wie Handtücher, Mehlpäckchen und Toilettenpapier. „Für unsere Kirchengemeinde ist es, denke ich, wichtig, dass unsere ukrainischen Gäste hier sind“, sagt Vikar Bujok. „Es ist wichtig, dass Bethanien helfen kann.“
Im Moment lässt sich unmöglich sagen, wie lange diese Hilfe erforderlich ist. Die Familien in Bethanien gehen unterschiedlich mit der Situation um. Während Timurs Großmutter darüber nachdenkt, die Kinder an der örtlichen Schule anzumelden, macht Artems Mutter schon seit Monaten Pläne für die Zukunft der Familie in Polen. Ihr Sohn fragte sogar, wann sie „nach Hause gehen“, als sie im Januar ihr Haus in Tschernihiw besuchten, erzählt sie: „Er sagte: Solange es Krieg gibt, ist die Ukraine keine Heimat.“