Polen: Pläne für ein neues Leben, während man das alte vermisst

16 Mai 2023

Ukrainische Flüchtlinge in Polen fühlen sich zwischen ihrem alten Leben und der neuen Situation hin- und hergerissen. Die LWB-Gemeindezentren unterstützen die Integration vor Ort, während sie gleichzeitig Kultur und Sprache bewahren. 

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Teilnehmende eines Maniküre-Workshops

Teilnehmende eines Maniküre-Workshops. Foto: LWB/Albin Hillert

LWB-Gemeindezentren unterstützen Integration ukrainischer Flüchtlinge  

(LWI) – Rund ein Jahr nach ihrer Flucht vor dem Krieg in der Ukraine befinden sich die Flüchtlinge in Polen in einer Zwickmühle zwischen der Integration vor Ort und dem Heimweh und der Sorge um Angehörige in der Ukraine. Das LWB-Gemeindezentrum im polnischen Bielsko-Biała hilft ihnen, sich in ihrem neuen Leben zurechtzufinden.  

In einem Raum nehmen 14 junge Frauen an einer Nagelpflege-Schulung teil, um später ein eigenes Geschäft eröffnen zu können. Im Raum daneben fertigen 20 ältere Frauen „Diamantbilder“ an, für die sie kleine künstliche Edelsteine auf ein Bild kleben, oder basteln Papierblumen. Dazu singen sie auf Ukrainisch. Gleichzeitig erklärt eine Psychologin, wie man mit Fernbeziehungen zurechtkommt. 

Ein Stockwerk tiefer machen Kinder Blumen und spielen, während im Fernsehen ukrainische Zeichentrickfilme laufen. Alle diese Frauen sind vor dem Krieg in der Ukraine geflohen und haben eine vorübergehende Bleibe in Polen gefunden, doch ihre Bedürfnisse sind unterschiedlich. Während die einen Pläne für ein Leben im Ausland machen, möchten die anderen in ihre Heimat zurückkehren, sobald es dort wieder sicher ist.  

So wichtig wie Bargeld  

Tetiana Shupytska (62) aus Dnipro arbeitet an einem blauen und gelben Bild von einem Delfin. Sie kam am 5. März 2022 mit einer ihrer Töchter und ihrem Enkelsohn nach Polen. „Hier ist es ruhig, gemütlich. Wir brauchen keine Angst mehr vor den Bomben zu haben“, sagt sie. Wie so viele, dachte auch sie anfangs, der Krieg wäre nach wenigen Tagen vorüber, doch nach einer Woche voller Luftangriffe und Detonationen beschloss sie, das Land zu verlassen. „Wir hatten nur die Kleider, die wir am Leib trugen“, sagt sie. „Am Anfang war es wirklich hart.“  

Ursprünglich nutzte der LWB die Zentren zur Registrierung der Flüchtlinge für die finanzielle Unterstützung. Später, als die Menschen Unterkünfte gefunden hatten und mit Gütern des täglichen Bedarfs versorgt waren, verlegten die Zentren ihren Schwerpunkt auf die Integration vor Ort.  

Bielsko-Biała, eine Stadt in der Woiwodschaft Schlesien, ist der lutherische Knotenpunkt in Polen, einem Land, das römisch-katholischen geprägt ist. Die Gemeinde verfügt über eine große Kirche, ein Gemeindehaus mit Druckerei und mehrere Schulen. Das einzige Martin-Luther-Denkmal in Polen steht hier auf dem Kirchplatz. Das Gemeindezentrum betreiben LWB-Weltdienst und die Evangelisch-Augsburgische Kirche in Polen im Gemeindehaus. Dort gibt es Räume für Workshops und Tagungen sowie zwei Spielzimmer für Kinder.

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Psychologin Iryna Karpenko bei einer Kunst- und Entspannungseinheit

Psychologin Iryna Karpenko bei einer Kunst- und Entspannungseinheit. Foto: LWB/Albin Hillert

„Am Anfang fragten wir uns, wie wir das zum Laufen bringen sollten“, sagt Yevhenija Ralko, die Teamleiterin des Zentrums. „Wir dachten, es würden keine Leute kommen, weil solche Gemeindedienste nicht so wichtig sind wie Geld.“ Doch das Zentrum wurde schon bald zu einem Treffpunkt für die Flüchtlingsfamilien in der Region. Die Frauen nehmen an Schulungen und Workshops teil, während die Kinder malen, spielen und Zeichentrickfilme auf Ukrainisch anschauen. Viele haben Heimunterreicht und genießen die Möglichkeit, sich mit anderen Kindern zu treffen und viel Spielzeug zur Verfügung zu haben. Ihre Mütter können sie auch für ein paar Stunden dort lassen, um Besorgungen zu machen oder Termine wahrzunehmen.  

Pläne für ein neues Leben 

 

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Tamara Grygorenko

Tamara Grygorenko. Foto: LWB/Albin Hillert

Die Mitarbeitenden des Zentrums sind selbst Flüchtlinge aus der Ukraine. Tatiana Krochaks Ehemann kam in den ersten Kriegstagen in Bucha ums Leben. Im März 2022 verließ sie das Land mit ihren Teenager-Töchtern und einer betagten Mutter. „Sie haben ihren Vater sehr geliebt“, sagt sie. „Ich versprach ihm, dass ich unsere Kinder an einen sicheren Ort bringen würde, falls etwas passieren sollte.“  

Die Arbeit helfe ihr, mit dem Verlust fertig zu werden, fügt Krochak hinzu. „Die Leute fragen mich: wie kannst du nach so was arbeiten? Aber wenn man arbeitet, vergisst man, was einem Schlimmes passiert ist. Ich muss meine Töchter ernähren. Oder vielleicht bin ich auch einfach nur eine starke Frau.“

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Ein Junge zeigt ein Bild, das er bei der Kinderbetreuung im LWB-Gemeindezentrum gemalt hat

Ein Junge zeigt ein Bild, das er bei der Kinderbetreuung im LWB-Gemeindezentrum gemalt hat. Foto: LWB/ Albin Hillert

Da die staatliche Unterstützung für die Flüchtlinge reduziert wurde, müssen sie sich Jobs zu suchen, doch häufig fehlen ihnen die Sprachkenntnisse, um in ihren alten Berufen zu arbeiten. Über die Zentren bietet der LWB Polnisch-Unterricht, psychologische Hilfe zur Bewältigung traumatischer Erfahrungen, Workshops und Qualifizierungsmaßnahmen an. So hilft der Nagelpflege-Workshop den Teilnehmenden dabei, von zuhause ein Geschäft zu gründen.  

Während die jüngeren Frauen vielfach vorankommen möchten, nehmen die älteren Menschen die Gelegenheit wahr, ihre Muttersprache zu hören und über Neuigkeiten aus der Heimat zu reden. „Wir verstehen einander. Uns geht es allen gleich“, sagt Tamara Grygorenko aus dem Bezirk Saporischschja. Mit 81 sieht sie für sich keinen Neuanfang in einem anderen Land. „Ich möchte liebend gerne in meine Heimat zurück, weiß aber nicht, wann das möglich sein wird“, sagt sie.  

Familien erhalten

Psychologin Iryna Karpenko, selbst Geflüchtete, hilft den Frauen dabei, mit ihren wechselnden Gefühlen, Umständen und Beziehungen klarzukommen. „Die Kinder sind bereit für eine Veränderung und für einen Neuanfang hier“, sagt sie. „Die Erwachsene hingegen fühlen sich für die Menschen verantwortlich, die in der Heimat zurückgeblieben sind. Also möchten sie ihnen helfen, und sie so gut es geht unterstützen.“   

Karpenko erlebt mit, wie sich Frauen, die jahrzehntelang verheiratet waren, von ihren Ehemännern entfremden, die unter ganz anderen Umständen in der Ukraine leben. Sie hört von Schuldgefühlen, denn viele Frauen möchten ihre Ehemänner unterstützen und für ihr Land kämpfen, sind dazu aber körperlich nicht in der Lage oder mussten ihre Kinder in Sicherheit bringen. Andere Familien tun sich schwer mit der Entscheidung, ob sie ein Leben außerhalb der Ukraine planen oder zurückkehren sollen.  

Die LWB-Gemeindezentren helfen den Flüchtlingen beim Umgang mit dieser komplexen Problematik, indem sie die Integration vor Ort fördern und gleichzeitig Kultur und Sprache bewahren. „Die Frauen fragen mich, wie man Stress bewältigt, sie bitten um Rat bei Familienkonflikten und wollen wissen, wie man dem Leben in Kriegszeiten einen Sinn gibt“, sagt Karpenko. In ihren Sitzungen versucht sie, den Frauen zu helfen, ihre Beziehungen aufrechtzuerhalten: „Das ist immens wichtig, um die Familien zu erhalten.“ 

LWB/C. Kästner-Meyer. Deutsche Übersetzung: Tonello-Netzwerk, Redaktion: LWB/A. Weyermüller