Für Überlebende des Erdbebens rückt Stein um Stein der Einzug ins neue Haus näher
Sanogoan (Nepal)/Genf, 27. Januar 2016 (LWI) – Wer ein Dorf wiederaufbauen will, braucht dazu ein Dorf. Fast neun Monate nach dem Erdbeben, das in Nepal etwa 600.000 Gebäude zerstört hat, fassen in Sanogoan alle mit an, um ihre Häuser wieder aufzubauen. Das Länderprogramm des Lutherischen Weltbundes (LWB) in dem südasiatischen Land hat in Zusammenarbeit mit dem ACT-Forum Nepal zu diesem Zweck unlängst Geld an 90 Familien im Dorf überwiesen.
Der Wiederaufbau von Wohnhäusern verzögert sich aufgrund der politischen Krise in Nepal, bei der es um die im September 2015 erlassene neue Verfassung geht. Die Krise schwelt bis heute, aber in Sanogoan hat kaum jemand Zeit, über Politik zu reden – alle sind vollauf damit beschäftigt, Mauersteine herzustellen.
Sanogoan ist ein typisches Dorf am Rand des Kathmandutal. Die Menschen dort gehören der Ethnie der Newar an. Der Ort wurde bei dem Erdbeben im April 2015 weitgehend zerstört und gleicht aktuell einem Zeltlager. Dutzende tunnelförmige weisse Zelte stehen in ordentlichen Reihen. Beleuchtet werden sie mit Solarlampen, die von der Decke hängen. Eine Gruppe Frauen hat sich in der Dorfmitte versammelt, um Baumaterial herzustellen. Sie reden und lachen bei der Arbeit. Sand wird gesiebt, dann mit Zement, Kies und Wasser vermischt. Die Mischung wird fest in eine Form hineingedrückt. Dann werden die grossen Zementsteine in der Sonne zum Trocknen ausgelegt, das dauert einige Wochen.
Erstes fertiggestelltes Haus soll als Modell dienen
Die harmonische Dorfgemeinschaft will 90 zerstörte Bauernhäuser wiederaufbauen. Bei der Arbeit wechseln sich Gruppen von DorfbewohnerInnen ab. Die ersten Mauersteine gehen an diejenige Familie, die sie am dringendsten braucht. Ihr Haus wird dann das Modell für die folgenden Gebäude.
Kabita Shrestha ist unter den Frauen, die die Steine herstellen. Sie trägt eine bunte Bluse, um ihren rosa Sari hat sie einen lila Schal gewickelt. Kabita wirkt unbeschwert. Aber die 26-Jährige hat viel Schweres erlebt. Ihre Mutter starb, als sie noch sehr jung war. So hatte Kabita keine Chance auf eine gute Schulbildung oder Heirat. Sie musste für ihren jüngeren Bruder und ihren kranken Vater sorgen. Letztes Jahr bei dem Erdbeben wurde sie am Bein verletzt und verlor ihre ganze Habe, als das Haus der Familie einstürzte.
Damit nicht genug. Nach dem Erdbeben verlor ihr Bruder seine Arbeit als Fahrer. Seine Frau war schwanger und der Gesundheitszustand von Kabitas Vater verschlechterte sich. Es wurde immer schwerer für sie, ihre Familie mit dem Nötigen zu versorgen.
Es dauerte fast neun Monate, bevor sich in Kabitas Situation ein Hoffnungsschimmer zeigte. Vergangene Woche überwies LWB-Nepal eine erste Rate in Höhe von 200.000 Nepalesischen Rupien (€ 1.750) auf das gerade eröffnete Bankkonto der Familie. Das Geld soll für den Bau eines neuen Hauses verwendet werden. „Ich hatte noch nie auch nur 10.000 Rupien in der Hand. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie 200.000 Rupien aussehen“, so Kabita.
Die Überweisung ist ein lang erwarteter Schritt in einem einzigartigen Programm, das für Sanogoan und das nahegelegene Nanglebhare entwickelt wurde, die als „Modelldörfer“ für den Wiederaufbau von zerstörten Orten dienen sollen. Die Verbindung zwischen LWB-Nepal und Sanogoan entstand schon eine Woche nach dem Erdbeben vom April 2015. Damals erhielt der Direktor des Länderprogramms, Dr. Prabin Manandhar, einen Anruf: „Sie bringen Hilfsgüter in entlegene Dörfer, aber uns hier, nur 20 Kilometer ausserhalb von Kathmandu, hilft niemand.“ In Zusammenarbeit mit weiteren Mitgliedern des ACT-Forums entsandte LWB-Nepal ein Team, um sich ein Bild von der Situation zu machen. Die Ergebnisse deckten sich mit dem Anruf im LWB-Büro. Manandhar veranlasste umgehend die Verteilung von Hilfsgütern und stellte eine Mitarbeiterin ein, die die weitere Nothilfe koordinierte und koordiniert.
Frauen übernehmen Führungsverantwortung
Neun Monate später ist Madhu Sunam immer noch vor Ort. Aktuell koordiniert sie die Schaffung neuer Existenzgrundlagen und den Wiederaufbau der Wohnhäuser. Mit lediglich einem kleinen Rucksack („mein mobiles Büro“) ist sie ständig unterwegs. Sie wohnt bei den Familien in ihren Zelten und bleibt jeweils nur ein, zwei Nächte. „Die Leute laden mich ein, länger zu bleiben, aber ich weiss, dass es schwierig für sie ist, mich zu beherbergen. Also ziehe ich weiter“, erklärt sie.
Sunam hat Freude an ihrer anstrengenden Aufgabe und stellt wichtige Veränderungen bei den Frauen in Sanogoan fest. „Als ich hierherkam, sagten die Frauen bei Zusammenkünften kaum etwas. Sie waren es gewohnt, im Haushalt und in der Landwirtschaft zu arbeiten. Das Erdbeben hat sie dazu gezwungen, sich über diesen vertrauten Bereich hinaus zu engagieren. Heute sagen sie deutlich ihre Meinung und haben in vieler Hinsicht beim Wiederaufbau die Führung übernommen.“
Auch das Programm zur Kleingewerbeentwicklung, das der LWB aufgelegt hat, trägt zu dieser Emanzipierung der Frauen bei. Das Dorf hat 16 Personen ausgewählt, die 15.000 Rupien Fördergeld erhielten, um einen kleinen Betrieb aufzubauen. Eine von ihnen ist die 19-jährige Saru Shrestha. Sie ist in eine 10-köpfige Familie hineingeboren. Nach dem Erdbeben musste sie die Schule verlassen und mithelfen, ihre jüngeren Brüder und Schwestern zu versorgen. Mit dem kleinen Zuschuss hat Saru einen Imbiss aufgemacht, wo sie Tee, kleine Gerichte und Süsses verkauft. „Zuerst war es nicht einfach, vor allem, wenn es darum ging, mich mit Leuten auseinanderzusetzen, die auf Kredit kaufen wollen. Aber jetzt bin ich nicht mehr so schüchtern“, erzählt Saru, die ihre Einnahmen hauptsächlich braucht, um die Schulgebühren für ihre Geschwister zu bestreiten. Aber sie kann auch etwas beiseitelegen. „Ich träume davon, einen zweiten Laden mit Kosmetik aufzumachen“, erklärt die Jungunternehmerin.
Bausteine trocknen im Zelt
Eine der Frauen macht mit einem grossen Kessel die Runde und verteilt hausgemachtes Reisbier – chhyang – an die Arbeitenden. Kabita bereitet inzwischen die nächste Runde Bausteine vor. „Das Leben ist immer noch sehr schwierig“, stellt sie fest. „Dieser Winter ist aussergewöhnlich kalt. Neulich musste ich mein warmes Zelt aufgeben, um Platz zu machen, damit die Bausteine trocknen können. Jetzt wohnen wir in einer provisorischen Unterkunft hinter dem alten Haus.“
Kabitas Schwägerin hat vor zwei Wochen ein gesundes Mädchen zur Welt gebracht, aber sie muss in einem ungeheizten Raum auf dem Boden schlafen. Der Vater wurde vor kurzem ins Krankenhaus eingewiesen, allein für seine Medikamente muss die Familie monatlich 10.000 Rupien ausgeben. Im Süden gibt es aufgrund der politischen Konfliktlage Blockaden, so dass inzwischen Petroleum und Gas knapp sind. Kabita schürt das Feuer zum Kochen mittlerweile mit Bambusstücken, die sie im nahegelegenen Wald sammelt.
Trotz der vielen Probleme spürt Kabita Hoffnung. Gemeinsam mit ihren Freundinnen beschreibt sie, wie ihr Traumhaus aussehen soll: „Eine Toilette im Haus, eine gemütliche Küche mit fliessendem Wasser und ein flaches Dach, wo man in der Sonne sitzen und Gemüse trocknen kann.“
Wenn alles gut geht, kann Kabita noch vor Ende des Jahres in ihr Traumhaus einziehen.
Ein Beitrag von LWI-Korrespondentin Lucia de Vries (Nepal).