Madagaskar: Chancengleichheit schaffen

22. Mai 2024

Im folgenden Interview aus der Reihe „Stimmen aus der Kirchengemeinschaft“ spricht Rakotondramiadana Holiharifetra über den langen Weg hin zu einer Gleichstellung der Geschlechter in ihrem Land.

Rakotondramiadana Holiharifetra

Rakotondramiadana Holiharifetra, Referentin für Gendergerechtigkeit der Madagassischen Lutherischen Kirche. Foto: LWB/P. Hitchen 

Stimmen aus der Kirchengemeinschaft: Rakotondramiadana Holiharifetra, Referentin ihrer Kirche für Gendergerechtigkeit 

(LWI) – Frauen zum Wohl von Einzelpersonen, Familien, Kirchen und Gemeinwesen zu mehr Selbstbestimmung zurüsten. So lautet das ehrgeizige Ziel, das sich Rakotondramiadana Holiharifetra gesetzt hat, als sie die Stelle der Referentin für Gendergerechtigkeit in der Madagassischen Lutherischen Kirche übernommen hat.  

Mit mehr als vier Millionen Mitgliedern ist die madagassische Kirche eine der am schnellsten wachsenden Mitgliedskirchen des Lutherischen Weltbundes (LWB), dem sie seit 1950 angehört. Ein besonderes Merkmal der Kirche ist die florierende Erneuerungsbewegung an der Basis, die es schon seit über einhundert Jahre gibt und in der Menschen aller Altersgruppen zum gemeinsamen Gottesdienst und für spirituelle Heilung zusammenkommen.  

Madagaskar sei eine sehr patriarchalische Gesellschaft, erklärt Holiharifetra, in der Frauen kaum die gleichen Chancen hätten wie Männer, wodurch sie stärker von Armut und Gewalt bedroht seien. Holiharifetra reist immer wieder durchs ganze Land, um den Menschen mithilfe von Bibelarbeiten, themenbezogener lutherischer Theologie und Blickwinkeln aus der Erneuerungsbewegung die neusten Erkenntnisse zu den Themen gemeinsame Entscheidungsprozesse und gleiche Würde von Frauen und Männern näherzubringen.  

Wann sind Sie sich Ihrer Berufung zu Führungsverantwortung in der Madagassischen Lutherischen Kirche das erste Mal bewusst geworden?  

Das ist schwer zu sagen. Schon als kleines Kind bin ich sehr gerne in die Sonntagsschule gegangen und habe gespürt, dass mich Gott dazu berufen hat, in der Kirche aktiv zu sein. Nachdem ich die Sekundarstufe abgeschlossen hatte, bin ich 1994 an das regionale Theologie-Seminar gegangen, obwohl ich nicht davon ausging, dass ich weit kommen würde in meinem Theologie-Studium. Aber meine Familie und die Menschen in meiner Gemeinde haben mich sehr unterstützt und mir Mut gemacht, weiterzumachen.  

Als ich dann meinen Bachelor-Abschluss in Madagaskar gemacht hatte, konnte ich für mein Master-Studium in systematischer Theologie nach Norwegen gehen. Es war hart, so weit weg von der Familie zu sein, aber als ich nach Madagaskar zurückkehrte, bat mich unser ehemaliger Kirchenpräsident Dr. Rakoto Endor Modeste, die Missionsarbeit der Kirche im Ausland von der madagassischen Hauptstadt Antananarivo aus zu koordinieren.  

Ich wusste nicht viel über diese Arbeit, aber ich habe mich sehr engagiert und bin durch das ganze Land gereist, um die Ortsgemeinden zur Teilhabe an diesem Missionsprojekt zu animieren. Mit Hilfe unserer Partner entsendet meine Kirche Missionsfachleute nach Bangladesch, Papua-Neuguinea, Thailand und andere Länder.   

Jetzt sind Sie zur Referentin für Gendergerechtigkeit Ihrer Kirche ernannt worden und treten damit in die Fußstapfen einer anderen Theologin, nämlich Hélène Ralivao, die wegen ihres Einsatzes für die Zurüstung von Frauen zu mehr Selbstbestimmung umgebracht wurde – haben auch Sie Angst um Ihr Leben?  

Nein, ich vertraue darauf, das Werk Gottes zu tun. Für unsere Kirche, unsere Gemeinwesen und unsere Familie ist das sehr wichtig. Wir müssen Eltern, Paare, die Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger in unserer Kirche und Gesellschaft animieren, Jungen und Mädchen in Bezug auf ihre Rechte und Pflichten gleich zu behandeln.   

Ebenso müssen wir unsere Kinder darauf vorbereiten, selbstständiger und eigenverantwortlicher zu sein, und bessere Beziehungen zwischen jungen Frauen und Männern zu schaffen, damit sie weniger abhängig sind von ihren Familien, die sich möglicherweise stark in das Leben eines jungen Paares einmischen wollen.  

Wo legen Sie den Schwerpunkt in Ihrer Arbeit?  

Mein Job ist es, den Menschen bewusst zu machen, dass alle Menschen gleich und nach dem Bilde Gottes geschaffen sind. Dafür nutze ich Workshops für Frauen und Männer und Bibelarbeiten. Die Sensibilisierungsarbeit ist nicht einfach, aber als christliche Gläubige müssen wir den Menschen die Augen öffnen, damit sie die Worte in der Bibel in einem neuen Licht sehen.   

Es geht nicht darum, dass die Frauen die Männer ersetzen sollen, sondern darum, dass sie gemeinsam Dienst tun, nicht in Konkurrenz stehen, sondern sich ergänzen, darum, dass im Dienste der Mission Gottes alle Gaben und Talente genutzt werden. Frauen müssen frei sein von Systemen, Strukturen und Traditionen, die sie klein halten und eine sinnvolle Teilhabe verhindern.  

Wir bespielen auch einen Programmplatz bei dem Radiosender unserer Kirche in Antananarivo und wollen das auch in anderen Landesregionen umsetzen. Das ist nicht einfach, denn ich muss meine Beiträge dafür spätabends aufzeichnen, wenn es weniger Hintergrundgeräusche gibt.  

Mit welchen anderen Herausforderungen sind Sie konfrontiert?  

Wir müssen loskommen von den patriarchalen Sichtweisen und Haltungen, die in unserer Gesellschaft und sogar in unserer Kirche immer noch vorherrschen; selbst in unserer Kirche gibt es ordinierte und nicht-ordinierte Führungspersonen, die dieses Engagement für Gendergerechtigkeit nicht leiden können. Tatsächlich können Frauen in unserer Kirche schon seit den 1970er Jahren Theologie studieren, wir werden aber bis heute nicht ordiniert.   

Wir haben die gleichen Qualifikationen, schreiben am Seminar die gleichen Prüfungen wie die Männer, aber nach dem Abschluss werden nur die Männer ordiniert und den Gemeinden zugeteilt, während die meisten Frauen arbeitslos werden. Nur zehn Prozent der weiblichen Theologie-Fachleute finden einen Job in diesem Bereich. Die meisten kehren nach Hause zurück und verlieren alle Hoffnung für die Zukunft.   

Haben Sie Hoffnung, dass sich die Lage für die Frauen in Ihrem Land verbessert?  

Für viele Frauen ist das Leben sehr hart. Es gibt keine Chancengleichheit für sie und Mädchen werden schlechter ausgebildet, haben schlechteren Zugang zu Gesundheitsfürsorge. Aufgrund von Armut werden viele Mädchen – auch viele Schülerinnen an weiterführenden Schulen – in die Prostitution gezwungen. Wenn verheiratete Frauen studieren wollen, drohen ihre Ehemänner ihnen oftmals an, dass sie sie verlassen würden, damit sie finanziell von ihnen abhängig bleiben.   

Als Kirche arbeiten wir mit dem LWB, der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Amerika und der norwegischen Missionsgesellschaft „det Norske Misjonsselskap“ zusammen, um Frauen wirtschaftlich zu unterstützen; wir vergeben kleine Finanzhilfen für Unternehmen zum Beispiel in der Landwirtschaft oder Schneiderei. Darüber hinaus bieten wir Ausbildungen zum Beispiel im Frisör- oder Kochhandwerk an und betreiben Kapazitätsaufbau, um Frauen und Mädchen mehr Selbstvertrauen in ihre Fähigkeiten zu geben.  

Sie haben vor Kurzem an der Tagung der UN-Kommission für die Rechtsstellung der Frau in New York teilgenommen – inwiefern hat Ihnen das für Ihre Arbeit geholfen?  

Die Teilnahme an der CSW68 hat meinem Verantwortungsbewusstsein neuen Schwung verliehen, aber mir ist auch klar geworden, dass die Frauen in vielen anderen Ländern mit den gleichen Problemen kämpfen wie wir in Madagaskar, dass auch sie durch Armut und Gewalt gefährdet sind.   

Ich habe zwischenzeitlich einen Dialog für die Mitglieder einer unserer Synoden im Süden des Landes ins Leben gerufen. Die meisten Teilnehmenden sind Männer, aber ich habe die Chance auch genutzt, um Vertreterinnen von Frauenverbänden zu treffen. Mit beiden Gruppen habe ich über die Gleichstellung der Geschlechter gesprochen, aber ich habe unterschiedliche Ansätze für die Schaffung von Bewusstsein gewählt und gemerkt, dass ihnen die Augen geöffnet wurden. Ich möchte auch die Kampagne „16 Aktionstage gegen Gewalt an Frauen“ nutzen, um junge Mädchen über ihre Rechte aufzuklären und damit ihre Anfälligkeit für geschlechtsspezifische Gewalt zu reduzieren.  

Was bedeutet es für Ihre Kirche und Ihre Arbeit, Teil der weltweiten Gemeinschaft von Kirchen zu sein?  

Das ist sehr wichtig für uns, denn es gibt noch sehr viel zu tun. Wir brauchen die Unterstützung einer größeren Gemeinschaft, die wir im LWB finden. Durch unsere Partner können wir in verschiedenen Bereichen Stipendien ausschreiben und junge Mütter unterstützen und ihnen eine Tagesbetreuung für ihre Kindern anbieten.  

Ich habe erlebt, dass viele Frauen dank dieser Unterstützung ihr Leben umkrempeln konnten. Eine Frau, die ich kenne, hat finanzielle Hilfe erhalten, um eine kleine Schweinezucht aufzubauen, und kann ihre Ferkel heute auf dem örtlichen Markt verkaufen. Mit dem Geld, das sie verdient, kauft sie weitere Schweine und Mauersteine, um sich selbst ein Haus zu bauen. Jetzt – drei Jahre später – kann sie bereits ein Dach auf ihr Haus setzen und hat wieder Hoffnung geschöpft für sich selbst und ihre Familie. 

LWF/P. Hitchen