Kolumbien: Aus Wegbereitenden werden Friedensstiftende

19. Jul. 2024

IELCO-Präsident Bischof Atahualpa Hernández spricht im folgenden Interview über die Rolle der lutherischen Kirche in Kolumbien, die sich für Frieden und Versöhnung in dem seit über einem halben Jahrhundert anhaltenden Konflikt in dem Land einsetzt. 

Atahualpa Hernández Miranda, Bischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche Kolumbiens

Atahualpa Hernández Miranda, Bischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche Kolumbiens (IELCO). Foto: LWB/Albin Hillert

Bischof Atahualpa Hernández zur Geschichte und Mission der Kirche in Kolumbien 

(LWI) – Das Bauen von Brücken zur Förderung von Räumen für Dialog und Zusammenarbeit ist eine wichtige Aufgabe für Atahualpa Hernández Miranda, den Bischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche Kolumbiens (IELCO).  

Angesichts der Polarisierung in seiner Kirche und der Herausforderungen, die mit der Aufgabe einhergehen, in einem ganz überwiegend katholischen Kontext arbeiten zu müssen, und vor dem Hintergrund der alltäglichen Schwierigkeiten, Überlebende des seit Langem anhaltenden Bürgerkriegs in dem Land zu begleiten, sind Konfliktlösung und die Schaffung von Frieden seit seiner Amtsübernahme 2016 immer zwei ganz zentrale Aspekte seiner Arbeit gewesen. 

Ebenfalls im Jahr 2016 unterzeichnete die kolumbianische Regierung ein Friedensabkommen mit der größten Guerillagruppe des Landes, um den Konflikt zu beenden, dem bereits tausende Menschenleben zum Opfer gefallen waren und der Millionen weitere Menschen von ihrem Land vertrieben und ihnen damit die Existenzgrundlage geraubt hat. Als Oberhaupt einer Kirche ist Hernández an der praktischen Umsetzung der Bestimmungen des Abkommens intensiv beteiligt und war aktiv daran beteiligt, die Konfliktparteien für Verhandlungen an einen Tisch zu bringen. 

Im Rahmen der Tagung des neu gewählten Rats des Lutherischen Weltbundes (LWB) in Genf vor Kurzem, dem er angehört, hat Hernández mit uns über seine Einblicke und Erkenntnisse aus seiner Arbeit und die sich verändernde Rolle der lutherischen Kirche in seinem Land gesprochen. 

Erzählen Sie uns kurz etwas über die Geschichte Ihrer Kirche in Kolumbien. 

Die Anfänge der Kirche liegen in den 1930er Jahren. Damals kamen zwei Frauen aus Nordamerika als Missionarinnen in die abgelegenen Orte und Dörfer im gebirgigen Zentrum des Landes. Kolumbien ist ein stark katholisch geprägtes Land, daher hatten die beiden es nicht einfach; aber sie waren Pionierinnen, die kreativ dachten und Schulen für Laiinnen und Laien gründeten – also auch für Frauen, was damals sehr ungewöhnlich war. 

Es gab damals in diesen Regionen sehr viel sozioreligiöse Gewalt und Menschen wurden wegen ihrer Religion sogar verfolgt. Im Laufe der Zeit arbeiteten die beiden sich bis ins Flachland vor und dann in die großen Städte wie Bogotá und Medellín. Aufgrund ihrer Geschichte und ihrer Anfänge bestand immer eine große Nähe zwischen der Kirche und den Menschen, die Leid erfuhren oder aus ihrer Heimat vertrieben worden waren. Wir haben heute etwa 2.500 Mitglieder und rund 25 Gemeinden.  

Und wie steht ihre eigene Familie zur Kirche? 

Meine Großmutter väterlicherseits war die erste, die sich dem lutherischen Glauben zuwandte. Sie unterrichtete in der Sonntagsschule und ich erinnere mich noch genau, dass sie mir immer wieder von den Schwierigkeiten erzählte und dass sie Gott um Schutz bat, wenn Menschen versuchten, ihr Haus zu zerstören. Sie hat mein Leben und meinen Glauben sehr stark beeinflusst, weil sie in meinem bewussten Erleben der erste Mensch war, der sich als Mitglied einer Kirchengemeinde so stark persönlich engagierte. 

Meine Mutter stammt aus einer katholischen Familie, aber als meine Eltern heirateten, nahm sie den lutherischen Glauben an. Ich selbst bin in der Kirche in Bogotá aufgewachsen und war aktiv in Bibelkreisen, habe an Zeltlagern teilgenommen und mich vor allem für die Musik interessiert, weil mir das Schlagzeug spielen sehr gefiel.  

Spielen Sie noch? 

Nein. Ich habe noch ein Schlagzeug, aber als Bischof leider nicht mehr genug Zeit, um aktiv zu spielen. 

Wann haben Sie entschieden, dass Sie Pastor werden wollen? 

Ich wollte schon immer Theologie studieren, aber die Lage unserer Kirche war damals nicht einfach. Also habe ich zunächst Chemieingenieurwesen studiert und erst später auf Theologie umgesattelt. Ordiniert wurde ich 2009.  

Meine erste Gemeinde war in dem keinen Ort Trinidad in der Nähe der Grenze zu Venezuela. Der Ort hatte bei den Kämpfen zwischen Guerilla-Gruppen und Paramilitärs viel durchgemacht. Anfangs wollte ich dort nicht hin und es war nicht leicht für mich. Aber ich habe viel gelernt und die Menschen dort haben mir sehr viel beigebracht. Nach zwei Jahren war mir klar, dass dies die beste „Universität“ für neue Pastorinnen und Pastoren war. 

2016 wurden Sie zum Bischof ernannt – wo haben Sie seither Ihre Arbeitsschwerpunkte gelegt? 

Ich versuche, Räume für Dialog und Austausch zu schaffen, denn als ich gewählt wurde, gab es viel Polarisierung und Spaltung in der Kirche. Eines meiner Ziele war, wieder Möglichkeiten zu schaffen, dass Menschen lernen können, einander wieder zu vertrauen und ihre Ängste und Vorurteile zu überwinden, selbst im Verband der Pfarrpersonen. Es war wichtig, wieder das Gefühl zu haben, eine vereinte Kirche zu sein – auch mit all unseren Meinungsverschiedenheiten und Unterschieden. Und ich freue mich sehr, dass ich bei unserem letzten Treffen eine andere Atmosphäre gespürt habe, dass die Menschen wieder als Team zusammenarbeiten. 

Welche Rolle hat die lutherische Kirche in Kolumbien in Ihren Augen heute? 

Über viele Jahre hatten wir die prophetische Aufgabe, uns für die leidenden Menschen einzusetzen. Als sich uns die Möglichkeit bot, uns offiziell eintragen zu lassen, haben wir begonnen, uns mit anderen Kirchen zu vernetzen. Dann haben wir uns DiPaz angeschlossen, der zwischenkirchlichen Plattform für den Dialog für Frieden, an der die etablierten Kirchen, die Pfingstkirchen, katholische und protestantische Universitäten und einige religiöse Basisorganisationen beteiligt sind. 

Durch diese Netzwerke wollen wir einen vom Glauben geprägten Blickwinkel vermitteln, der dabei helfen kann, unsere Gesellschaft aufzubauen. Wir lutherischen Gläubigen sprechen insbesondere über wiedergutmachenden Gerechtigkeit („restorative justice“) als Teil des Heilungsprozesses nach dem langjährigen Konflikt in Kolumbien und unterstützen die Suche nach Möglichkeiten, wie diejenigen, die an Verbrechen beteiligt waren, an Wiedergutmachung mitwirken können, indem sie wahrhaftig sagen, was passiert ist und die betroffenen Gemeinwesen um Vergebung bitten. 

In dem Friedensabkommen von 2016 standen die Opfer im Mittelpunkt und die Regierung und Konfliktparteien waren aufgerufen, Räume für Wiedergutmachung und Aufrichtigkeit zu schaffen, allerdings stimmten viele Menschen gegen das Abkommen. Wir haben herausgefunden, dass der Grund dafür war, dass viele Menschen nicht verstanden, warum Menschen für die von ihnen begangenen Sünden nicht bestraft werden sollten, oder dass sie dies als unfair empfanden. Das ist mit einem theologischen Verständnis von Schuld und Bestrafung verbunden, daher können wir als Kirche viel zu diesem Gespräch beitragen. 

Sie sind auch persönlich an dem Friedensprozess beteiligt, nicht wahr? 

Ja, ich habe die Erfahrungsberichte von zahlreichen Männern und Frauen gehört – und vor allem auch von jungen Menschen. Besonders berührt hat mich, dass alle, die am stärksten von den Kämpfen betroffen waren, die Menschen in den ländlichen Gemeinwesen, die gezwungen waren, ihr Land und ihre Angehörigen zurückzulassen, den Friedensvertrag befürworteten. In der Stadt hingegen ist die Lage eine andere: Man liest in den Nachrichten von dem Konflikt, aber man kriegt es nicht auf die gleiche Art und Weise mit. 

Unsere Kirche hatte ein Programm für ehemalige Kämpfer der Regierung und der Paramilitärs. Manche von ihnen hatten aus ideologischen Gründen mitgemacht, andere aber auch weil ihre Familie getötet worden war und sie keine andere Möglichkeit hatten. Sie alle verstanden, dass das Friedensabkommen ihnen die Chance auf einen Neustart im Leben gab. 

Wie schwierig ist es für diese jungen Menschen, die bisher nur den Krieg kennen, sich auf ein neues Leben als Zivilperson einzustellen? 

Das ist sehr schwer für sie, weil sie nie Alltagskompetenzen gelernt haben, nicht gelernt haben zu kochen, sauber zu machen und sich um sich selbst zu kümmern. Ihnen wurde nur das Kämpfen beigebracht, sie wissen nicht, wie sie an das Geld kommen oder wie sie die medizinische Hilfe oder die Bildungsangebote in Anspruch nehmen können, die ihnen in dem Friedensabkommen zugesichert werden.  

Unsere Teams versuchen, sie mit medizinischer und psychosozialer Hilfe zu unterstützen oder sie an andere professionelle Fachleute zu verweisen. Sie müssen Teil einer Gemeinschaft werden, in der sie über ihre Traumata, aber auch über ihre Träume und Hoffnungen sprechen können. 

Macht das Land Fortschritte hin zu einer friedlicheren Gesellschaft? 

Das Friedensabkommen ist ein Abkommen zwischen der Regierung und der größten paramilitärischen Gruppe, den Revolutionären Streitkräften Kolumbiens (Spanisch: Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia, FARC). Die zweitgrößte Gruppe, die Nationale Befreiungsarmee (Spanisch: Ejército de Liberación Nacional, ELN), befindet sich derzeit in Verhandlungen. Eine presbyterianische Pastorin nimmt für uns an diesen Gesprächen teil und darüber freuen wir uns sehr, weil über lange Jahre immer nur die katholische Kirche mit am Tisch sitzen konnte. Dissidenten der FARC hatten auch mich eingeladen, über den Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK) Teil einer Beobachtungs-Delegation zu sein. Das habe ich anfangs auch gemacht, aber inzwischen hat eine Person vom ÖRK diese Rolle übernommen. 

Ich erinnere mich noch gut an einen UN-Vertreter bei unserem ersten Treffen, der erklärte, dass jede noch so kleine Bemühung um Frieden ein kleiner Sieg sei; in diesem Sinne kann man sagen, dass es Fortschritte gibt, ja, aber es werden auch immer noch viele Bomben gezündet und viele Menschen entführt. An vielen Orten, wo die Kämpfe eingestellt wurden, gibt es viele verschiedene Wirtschaftsinteressen und verschiedene Gruppen versuchen Kontrolle über die Routen für den Drogen- und den Menschenhandel zu gewinnen. Aber die aktuelle Regierung engagiert sich anders als die letzte wirklich für den Friedensprozess und in den Gemeinwesen gibt es Fortschritte, auch wenn man in den Nachrichten immer noch wieder von dem Konflikt liest.  

Welche Hoffnungen haben Sie für die Zukunft Ihres Heimatlandes? 

Trotz aller Herausforderungen und Schwierigkeiten müssen wir uns weiter für Frieden, Gerechtigkeit, Versöhnung und mehr Chancen für junge Menschen einsetzen. Ich habe zwei Töchter, die 14 und 16 Jahre alt sind, und ich wünsche mir für sie eine bessere Zukunft, eine friedliche Zukunft in Kolumbien.

LWB/P. Hitchen