Die Krebspatientinnen und -patienten aus dem Gazastreifen leiden doppelt: Sie sind lebensbedrohlich erkrankt und leben in ständiger Sorge um ihre Angehörigen in der Heimat. LWI hat bei einem Besuch im Auguste-Viktoria-Krankenhaus mit einigen der Betroffenen gesprochen.
Die Belegschaft des Auguste-Viktoria-Krankenhauses tut alles, um die Erkrankten medizinisch und psychisch zu betreuen
(LWI) - Zu Beginn der israelischen Luftangriffe auf den Gazastreifen befanden sich 96 Patientinnen und Patienten und deren Angehörige aus dem Gazastreifen im Ost-Jerusalemer Auguste-Viktoria-Krankenhaus (AVH). Inzwischen leben diese Menschen und ihre Angehörigen seit fast sieben Monaten auf dem Klinikgelände und müssen erfahren, dass ihre Häuser zerstört und Familienmitglieder getötet wurden. Bei einem kürzlich erfolgten Besuch im Krankenhaus hat die Lutherische Welt-Information (LWI) mehr über ihre Geschichten und darüber, wie sich die Situation auf ihre Behandlung auswirkt, erfahren.
„Als der Krieg losging, wollte ich eigentlich meine Therapie abbrechen und nach Hause zurückgehen“, sagt Nour (Namen von Patientinnen und Patienten und ihren Angehörigen geändert). Die junge Frau war zur Behandlung eines komplizierten Hirntumors ins Krankenhaus gekommen. Ihren Ehemann, ihren Sohn und ihre drei Töchter musste sie in Gaza zurücklassen. Ihre Familie hat sie überzeugt, im Krankenhaus zu bleiben. Sie hatten nicht damit gerechnet, dass sie so lange Zeit getrennt sein würden.
Angsterfüllte Hoffnung
Per Telefon erfährt Nour, dass ihr Haus zerstört wurde und die Familie nach Rafah evakuiert wurde, wo sie jetzt in einem Zelt lebt. Ihre jüngste Tochter ist vier Jahre alt. Trotz ihrer Situation versucht die Familie, sie zu unterstützen. „Meine Kinder sagen mir: Wir haben gesehen, wie krank du warst; es ist gut, dass du im Krankenhaus bist. Aber wenn deine Behandlung abgeschlossen ist, dann komm bitte, bitte zurück zu uns", sagt sie mit Tränen in den Augen.
„Wir versuchen, die Hoffnung nicht zu verlieren“, sagt Bisan Kheir, im AVH zuständig für Ressourcenentwicklung. Seit Kriegsbeginn haben die Krankenhausleitung und das Personal für die im Krankenhaus festsitzenden Patientinnen und Patienten aus Gaza Unterkünfte, Winter- und Sommerkleidung, Hygienesets und bisweilen auch kreative Aktivitäten organisiert.
Für die Kranken und ihre Angehörigen spielt sich das Leben jetzt ausschließlich auf dem Krankenhausgelände ab. „Ich sollte eigentlich Anfang Dezember nach Hause zurückkehren“, sagt Leyla. Ihr vierjähriger Sohn Ahmed bekommt wegen eines Gehirntumors Bestrahlung. Leylas Ehemann und die beiden ein und drei Jahre alten jüngeren Kinder sind noch im Gazastreifen. Das jüngste Kind war sechs Monate alt, als Leyla den Gazastreifen verließ.
Leylas Vater und zwei Brüder wurden getötet, ihr Haus wurde beschossen. Ihre Kinder leben jetzt in einem Zelt in Rafah und klagen über Hunger und Kälte. „Ich habe Angst, ich habe sogar Angst zu hoffen“, sagt die junge Frau. „Aber für meine Familie und für Ahmed muss ich jetzt stark sein.“
Ahmed wird nur noch palliativ behandelt. „Für die Eltern ist so eine Diagnose ein Schock“, sagt Kinderonkologin Dr. Khadra Salami. Zu einer Therapie für krebskranke Kinder gehört in der Regel eine Beratung für die gesamte Familie, vor allem, wenn die Prognose schlecht ist. Derzeit kann das Team nur mit der Mutter arbeiten, die seit sieben Monaten allein und ohne familiäre Unterstützung ist. Sie versuchen, den Vater und die Großmutter am Telefon zu beraten.
Kein Kontakt mehr
Zwei Drittel der 100 krebskranken Kinder, die jedes Jahr im AVH behandelt werden, kommen aus dem Gazastreifen, sagt Dr. Salami. Jedes Jahr wird bei 400 Kindern im Gazastreifen und im Westjordanland Krebs festgestellt; normalerweise müssten jetzt etwa 50 neue Patientinnen und Patienten hinzugekommen sein. Doch seit Oktober 2023 werden nur noch die wenigen, die bereits im Krankenhaus waren, behandelt. „Wir haben eine besondere Beziehung zu unseren Patienten“, erklärt die Ärztin. „Aber mittlerweile haben wir den Kontakt zu den meisten von ihnen verloren. Viele sind im Krieg ums Leben gekommen. Wenn wir in diesen Tagen Nachrichten erhalten, sind es meist schlechte Nachrichten. Die letzten Monate waren sehr schwierig", so die Medizinerin.
Ein paar Zimmer weiter hat Samar gerade ihr Gebet beendet. Ihr achtjähriger Sohn Khalid wird wegen Leukämie behandelt. Er kämpft mit den Nebenwirkungen der Chemotherapie. „Die Ärzte machen, dass ich hässlich aussehe“, sagt er und versucht, sich zu wehren, als man seinen Blutdruck messen will. Der Achtjährige hat keine Haare mehr, sein Gesicht ist geschwollen. Seine Mutter hat mit ihm Ramadan-Papierlaternen gebastelt und eine Perücke besorgt. Doch wenn sie versucht, ihn aufzumuntern, lächeln ihre Augen nicht mit.
Samars Ehemann und ihre drei jüngeren Kinder sind im Norden des Gazastreifens. Ihr Haus ist zerstört, und sie erzählen ihr, dass es keine Lebensmittel gibt. Samars jüngste Tochter sagte kürzlich „Mama“ und meinte damit ihre Schwester, die sich um die Zweijährige gekümmert hat. Samars andere Tochter weigert sich, mit ihr zu sprechen. „Es gibt keine Hygiene, kein Wasser, meine Tochter hat Läuse... ich werde noch verrückt“, sagt Samar hilflos. Die Kinder in Gaza beneiden Khalid, der bei der Mutter sein kann. Dabei sehnt sich der kranke Junge nach seiner Familie. Khalid ist sehr aufgeweckt; er weiß Bescheid über den Krieg.
Von Abschiebung bedroht
In Ende März hatten die israelischen Behörden die Krankenhäuser in Ostjerusalem aufgefordert, eine Liste der Patientinnen und Patienten vorzulegen, deren Behandlung abgeschlossen war, damit diese in den Gazastreifen zurückgeschickt werden können. Gemeinsam mit Organisationen der Zivilgesellschaft erwirkte das East Jerusalem Hospital Network jedoch vor Gericht eine einstweilige Verfügung, mit der das Verfahren ausgesetzt wurde. Die Gesundheitsversorgung in Gaza ist nicht nur so zusammengebrochen, dass nicht einmal mehr genügend Schmerzmittel zur Verfügung stehen. Viele Patientinnen und Patienten des AVH haben auch kein Zuhause mehr, in das sie zurückgehen können. Kinder wie Ahmed brauchen spezielle Nahrung, Medikamente, Physiotherapie und eine saubere Unterkunft. „Diese Kinder könnte ich nicht in ein Zelt schicken“, sagt Dr. Salami.
Wie die Pflegedienstleiterin des AVH, Dr. Amal Abu Awad, anmerkt, ist die Belastung für Pflegepersonal und Ärzteschaft enorm. Für viele, so sagt sie, gehe der Stress zu Hause weiter: wegen der Gewalt der Siedler, weil ihre Partner ihre Arbeit verloren haben oder sie nicht einmal ihre engsten Verwandten in den Nachbardörfern besuchen dürfen. Das Krankenhaus bietet sowohl für Patientinnen und Patienten als auch für das Personal Beratung und Selbsthilfegruppen an.
„Es gibt uns Kraft, unseren Patienten zu helfen“, sagt Awad.