Zweite Hermeneutik-Fachtagung unter Federführung des LWB
Eine Gruppe von TheologInnen aus 20 Ländern hat sich mit Fragen eines zeitgemässen Verständnisses der Psalmen im 21. Jahrhundert auseinandergesetzt. Dabei rückte insbesondere die Relevanz der antiken biblischen Texte für von Gewalt bestimmte Situationen der Gegenwart in den Blickpunkt.
„Des Herrn Lied singen: Aktuelle Auslegungen der Psalmen auf der Grundlage lutherischer Perspektiven“ lautete das Thema der Tagung, die von der Abteilung des Lutherischen Weltbundes (LWB) für Theologie und Öffentliches Zeugnis (ATÖZ) gemeinsam mit der Universität Jena vom 21. bis 27. März in Eisenach (Deutschland) veranstaltet wurde.
Die 35 teilnehmenden TheologInnen verschiedener Konfessionen lehren an unterschiedlichen Hochschulen. Die Tagung ist die zweite in einer Konsultationsreihe zur Vorbereitung auf das 500. Reformationsjubiläum 2017, die erkunden soll, wie die Bibel in der lutherischen Gemeinschaft heute gelesen wird. Eine erste Hermeneutik-Konsultation befasste sich 2011 mit transformativen Auslegungen des Johannesevangeliums aus lutherischer Sicht.
Im Rahmen eines Morgengottesdienstes formulierte Pfr. Dr. Virgil László von der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Ungarn die Hoffnung, dass „wir durch eine vom Gebet getragene, akademisch stringente Auseinandersetzung mit der Psalmauslegung nicht nur als einzelne ChristInnen, sondern auch als Kirchengemeinschaft neue Impulse für die Sinngebung in Leben und Glauben gewinnen mögen.“
Pfarrerin Dr. Monica Melanchthon, Professorin am Center for Theology and Ministry in Parkville (Australien), rief dazu auf, das in den Psalmen spürbare drängende Verlangen nach Gerechtigkeit in den Vordergrund zu stellen. In den Klagepsalmen fänden sich Protest, Rache, Zorn und der Schrei nach Gerechtigkeit, sie seien entstanden aus Erfahrungen von Schmerz, Unrecht, Leid, Verlassenheit und Ablehnung, so die indische Theologin.
Melanchthon stellte Psalm 140 vor, der mit den Worten beginnt: „Errette mich, HERR, von den bösen Menschen; behüte mich vor den Gewalttätigen…“ Nach Melanchthons Verständnis handelt es sich beim dem Psalm um einen Schrei nach Gerechtigkeit und Gesang der Hoffnung, der insbesondere vor dem Hintergrund der jüngsten Vergewaltigungen von Frauen in Indien bis heute Relevanz habe.
Das Leid in der Welt
Dr. Craig R. Koester, Professor am Luther Seminary in St. Paul (Minnesota, USA) stellte fest, in den Psalmen werde Gottes Macht in Kontexten offenbar, wo man meinen könne, er sei fern, etwa wo Armut, Unrecht, Krankheit und Konflikte oder aber auch Säkularisierung und Gleichgültigkeit vorherrschten.
Psalm 22, dessen erster Vers „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ laute, sei eine der Grundlagen, auf die sich das Johannesevangelium stütze. „Wesentliche Dimension des Ausgangspunktes des Johannesevangeliums ist das reale, brutale Leiden Jesu. Wie kann man angesichts dieser Realität und Brutalität behaupten, Gott sei in der Welt gegenwärtig und wirke in ihr? Johannes versucht, diese Gegenwart und dieses Wirken Gottes aufzuzeigen.“
Der brasilianische Theologe Pfr. Dr. Vitor Westhelle lehrt an der Lutheran School of Theology in Chicago (USA). Seiner Auffassung nach müsse die Relevanz einer solchen Psalmenforschung im Blick auf das Leid in der Welt herausgearbeitet werden. „Für Luther ist das Leid der Welt im Prinzip gleichbedeutend mit dem Leiden Christi“, stellte Westhelle fest.
Luther habe, so Pfr. Dr. Hans-Peter Grosshans, Professor an der Universität Münster (Deutschland), bei der Auslegung der Psalmen ihre historische Bedeutung betont, sie auf Christus bezogen und ihren lebenspendenden Geist betont.
Für Luther sei, erklärte Grosshans weiter, „die lebenspendende Kraft der Geist der Texte, das heisst der göttliche Geist.“ Hieraus folgerte er, die „Benennung des gesamten Lese-, Hör- und Verstehensprozesses“ beabsichtige „eine Verifizierung der biblischen Texte im Leben der Menschen, die [sie] zu verstehen suchen.“
Dr. Annie Hentschel, Goethe-Universität Frankfurt, referierte über die Verwendung der Psalmen im Hebräerbrief und legte dar, wie alttestamentliche Texte auf neue Weise sprechen können, wenn sie im Kontext von Tod und Auferstehung Jesu ausgelegt werden.
Dr. Karl-Wilhelm Niebuhr von der Friedrich-Schiller-Universität Jena erinnerte die Teilnehmenden daran, dass es keinen allein gültigen Weg gebe, biblische Texte wie etwa die Psalmen zu lesen. Sein römisch-katholischer Kollege Dr. Frank-Lothar Hossfeld, Universität Bonn, legte den evangelischen TheologInnen ans Herz, bei ihrer Arbeit die Weisheit der KollegInnen aus der Ökumene nicht ausser Acht zu lassen.
Auslegung und Praxis
Die Teilnehmenden aus Afrika, Asien und der Pazifikregion, Europa, Latein- sowie Nordamerika nahmen an Plenarsitzungen und Kleingruppen sowie informellen Gesprächen, Gottesdiensten und einem Besuch auf der Wartburg teil, wo Luther während seines Exils in Eisenach 1521 das Neue Testament übersetzte.
Pfr. Dr. Kenneth Mtata, LWB/ATÖZ-Studienreferent für lutherische Theologie und Praxis und Koordinator des Studienprozesses zur Hermeneutik stellte fest, die Referate über die Psalmen hätten einige Fragen aufgeworfen zum Verhältnis von liturgischer Praxis und biblischer Exegese.
„Das ist ein interessantes Thema, denn es kann uns dabei helfen, von der theologischen Auslegung zur Praxis zu kommen“, erklärte Mtata. „Es genügt nicht, dass wir die Situation nur beschreiben, wir müssen Hilfsmittel für die Interpretation entwickeln.“
Eine Sammlung von Dokumenten der Konferenz soll im Lauf des Jahres 2013 veröffentlicht werden. Die Beiträge zur Hermeneutik-Konsultation 2011 sind enthalten in „Du hast Worte des ewigen Lebens“, einem Band aus der Serie LWB-Dokumentation, der in Kürze erscheinen wird. Weitere Informationen bei Iris Benesch, E-Mail: ib [at] lutheranworld [dot] org.
(Mit Beiträgen von Pfarrerin Dr. Robin Steinke, Dekanin des Lutheran Theological Seminary, Gettysburg (USA), und Teilnehmerin der Hermeneutik-Konsultation des LWB.)
Erste Hermeneutik-Konsultation | Die Bibel und das Reformationsjubiläum 2017