„Das Gefühl, gebraucht zu werden“

09 Sep 2022

In seinen Hilfszentren in Polen beschäftigt der LWB vor allem Geflüchtete.

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Olga aus Odessa arbeitet im LWB-Zentrum in Danzig. Foto: LWB/B. Pachuta

Olga aus Odessa arbeitet im LWB-Zentrum in Danzig. Foto: LWB/B. Pachuta

Begegnung mit LWB-Mitarbeitenden, die sich in Polen um Geflüchtete kümmern

OSTRÓDA, Polen/GENF (LWI) – Vor einem Krieg zu flüchten und in ein fremdes Land zu kommen, ist eine Herausforderung. Das gilt umso mehr, wenn man die Landessprache nicht beherrscht und auch sonst keine Fremdsprache spricht. Der LWB arbeitet deshalb – wie in anderen Länderprogrammen auch – nicht nur mit Personal vor Ort zusammen, sondern beschäftigt auch Geflüchtete in seinen Zentren.

„Ich musste aus der Ukraine fliehen, es war furchtbar. Ich musste meine Heimat, meinen Beruf aufgeben. Ich war gezwungen, mein Land zu verlassen, um meine Kinder zu schützen“, sagt Olga, die vorher in einer staatlichen Bank in Odessa gearbeitet hat. Die Arbeit mit Flüchtlingen ist für sie nicht neu, da sie seit 2014 Binnenvertriebene aus dem Donbass betreute. Sie ist davon überzeugt, dass sie als Geflüchtete die Situation der Menschen, die der LWB unterstützt, am besten versteht. Gleichzeitig hilft die Möglichkeit, etwas für Geflüchtete tun zu können, ihr und ihrer Familie nicht nur finanziell. „Diese Arbeit gibt mir das Gefühl, gebraucht zu werden“, sagt Olga.

Freude und Erleichterung

90 Prozent der Mitarbeitenden in den Zentren für die Auszahlung von Bargeldhilfen (MPCA) in Polen sind nach Aussage von Allan Calma, beim LWB für die Koordinierung humanitärer Aktionen zuständig, Geflüchtete aus der Ukraine. Calma hat diese Zentren in Polen mit Unterstützung des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR und der Evangelisch-Augsburgischen Kirche in Polen, einer LWB-Mitgliedskirche, aufgebaut. „Es war sinnvoller, Geflüchtete einzustellen, denn diese Arbeit erfordert aktives Engagement und die Erhebung von persönlichen Angaben bei den Geflüchteten.“

Für die Menschen, die Hilfe suchen, war es eine große Erleichterung, von Menschen aus ihrem Heimatland begrüßt zu werden. „Wir konnten sehen, wie freudig überrascht und auch erleichtert die Besucherinnen und Besucher des Zentrums waren, dass ihre Landsleute aus der Ukraine sie begrüßten und sich um sie gekümmert haben.  Noch wichtiger ist aber, dass der LWB aufgrund seiner Flüchtlingsarbeit in anderen Kontexten weiß, wie wichtig es für Geflüchtete ist, einer sinnvollen Tätigkeit nachzugehen und auf diese Weise wirtschaftlich autark zu werden“, fügt Calma hinzu.

„Die Arbeit im Zentrum hat mir geholfen, eine neue Balance in meinem Leben zu finden, nachdem ich nach Polen gekommen war. Auf diese Weise muss ich nicht immer an all die furchtbaren Ereignisse denken, die jetzt in der Ukraine stattfinden.“

– Anastasia, Geflüchtete aus der Ukraine

„Die Arbeit im Zentrum hat mir geholfen, eine neue Balance in meinem Leben zu finden, nachdem ich nach Polen gekommen war. Auf diese Weise muss ich nicht immer an all die furchtbaren Ereignisse denken, die jetzt in der Ukraine stattfinden“, sagt Anastasia, die Jura studiert hat. Sie hat bereits in Kanada und der Türkei als Betriebswirtin gearbeitet. Jetzt ist sie für das MPCA-Rekrutierungszentrum tätig und bearbeitet Beschwerden. Manchmal springt sie auch als Dolmetscherin und Übersetzerin ein.

Einen neuen Platz im Leben finden

Viele der Mitarbeitenden in den LWB-Zentren sind selbst Geflüchtete, die über die erforderlichen Kompetenzen verfügen und gut Englisch sprechen. Andere stammen aus der Ukraine und wohnen bereits seit einiger Zeit in Polen. Manche leben abwechselnd in beiden Ländern. Elizabeta, zum Beispiel, ist 2015 nach Polen gekommen, um hier zu studieren, ging aber regelmäßig in die Ukraine zurück, um im Sommer Geld zu verdienen.

Nach Beginn des Krieges gab sie ihren Job bei einer Bank auf und leistete ehrenamtliche Arbeit, bevor der LWB sie als Bürokraft und Dolmetscherin für das Zentrum in Danzig einstellte. „Ich fühle mich nützlich, wenn ich anderen Menschen helfe und vor allen denjenigen, die diese Hilfe am dringendsten brauche“, sagt die junge Frau, die auch schon als Kindertherapeutin gearbeitet hat.

Gleichzeitig gibt die Arbeit beim LWB den Geflüchteten die Möglichkeit, ihre Rechnungen zu bezahlen. „Jeden Tag, wenn ich mir meine Kinder anschaue, weiß ich, dass ich Menschen habe, für die ich leben und arbeiten muss. Meine Kinder geben mir Kraft. Ich kann jetzt nicht aufgeben, ich muss sie unterstützen“, sagt Andrzej, der als selbständiger Unternehmer in der Ukraine tätig war. Darüber hinaus vermittelt ihm die Arbeit in einem anderen Umfeld neue Fähigkeiten, die er in seinem neuen Leben vielleicht einmal gut gebrauchen kann.

Die Arbeit in den MPCA-Zentren ist ebenfalls eine gute Chance für die zahlreichen Geflüchteten, die kein Polnisch sprechen, denn hier sind auch Englisch und der tägliche Umgang mit ukrainischen Landsleuten gefragt. „Eine Arbeit zu finden war nicht einfach“, sagt Viktoria, die mit ihrer Familie monatelang von ihren Ersparnissen leben musste, bevor sie eine Arbeit beim LWB gefunden hat.

Sorgen um die Lieben zu Hause

Viktoria registriert die Geflüchteten, die im LWB-Zentrum von Ostróda einen Antrag auf finanzielle Unterstützung stellen. Sie ist glücklich, dass sie jetzt über die Möglichkeit verfügt, ihre Familie zu unterstützen, auch wenn das seinen Preis hat. Die Arbeit mit Geflüchteten bringt das Trauma des Krieges und der Vertreibung erneut ins Bewusstsein.

„Wir haben die Hölle des Krieges überlebt, aber jeden Tag erzählen uns Menschen, die nach Polen geflohen sind, von neuen Tragödien“, sagt sie. Als die Invasion begann, hat sie mit ihrer Familie in einem Keller zwei Wochen lang Schutz vor den Bombardements gesucht. Als sie wieder ans Tageslicht kamen, war ihr gesamtes Viertel ein Trümmerfeld. „Ich werde nie vergessen, wie sich eine Rakete anhört, die über uns hinweg fliegt“, sagt Viktoria. „Wenn meine Kinder ein Flugzeug hören, wollen sie sich unter dem Bett verstecken. Zum Glück ist meine gesamte Verwandtschaft gesund, und da ich sie unterstützen muss, kann ich nicht aufgeben.“

Allan Calma ist sich dieser Schwierigkeiten bewusst. „Unsere Mitarbeitenden, die selbst eine Flucht erlitten haben, werden durch die furchtbaren Erlebnisse, über die die Antragsteller in den Zentren berichten, schwer belastet, zumal sie ihre eigenen Traumata selbst noch nicht verarbeitet haben“, sagt er. „Aber alle sagen sie, dass ihnen die Arbeit sehr dabei hilft, zumal sie gleichzeitig anderen Geflüchteten helfen können und diese Arbeit die eigenen Probleme mehr als aufwiegt.“

 

In Polen unterstützt der LWB Geflüchtete aus der Ukraine durch ein Länderprogramm. Sechs Zentren für die Auszahlung von Bargeldhilfen sind im ganzen Land verteilt. Der LWB leitet diese Zentren gemeinsam mit der Evangelisch-Augsburgischen Kirche in Polen, einer LWB-Mitgliedskirche.

Der LWB leistet ebenfalls durch seine örtlichen Mitgliedskirchen in Polen, Ungarn, Rumänien und der Slowakischen Republik Hilfe für die Menschen in der Ukraine. Gemeinsam mit der Deutschen Evangelisch-Lutherischen Kirche der Ukraine, einer LWB-Mitgliedskirche, unterstützt der LWB Menschen im ukrainischen Oblast Tschernihiw in Norden der Ukraine.

Auf globaler Ebene nimmt der LWB an der weltweiten Advocacy-Arbeit für den Frieden und den Schutz vertriebener und vulnerabler Menschen teil. Diese Arbeit wird von den Finanzierungspartnern des LWB unterstützt, darunter auch die Evangelisch-Lutherische Kirche in Amerika.

LWB/C. Kästner, B. Pachuta. Deutsche Übersetzung: Detlef Höffken, Redaktion: LWB/A. Weyermüller
Program:
Land:
Polen