Being Lutheran: Unterscheidung der Geister heute

07 Dez. 2020
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Atahualpa Hernandez, Bischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche Kolumbiens und Simone Sinn, Professorin für Ökumenische Theologie am Ökumenischen Institut in Bossey (Schweiz). Fotos: LWB/Albin Hillert and LWB/A. Danielsson

Atahualpa Hernandez, Bischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche Kolumbiens und Simone Sinn, Professorin für Ökumenische Theologie am Ökumenischen Institut in Bossey (Schweiz). Fotos: LWB/Albin Hillert and LWB/A. Danielsson

Austausch, Zeugnis, Begleitung von Dialog- und Versöhnungsprozessen

GENF, Schweiz (LWI) – Von der Herausforderung, als lutherische Kirche in Lateinamerika Wege zu Frieden und Versöhnung zu finden, bis zum Ringen von Lutheranerinnen und Lutheranern im globalen Norden mit kontroversen ethisch-moralischen Fragen – die Teilnehmenden am jüngsten „Being Lutheran“-Webinar, das am 2. Dezember stattfand, beschäftigten sich mit unterschiedlichen Problemlagen, bei denen es um die Unterscheidung der Geister unserer Zeit ging.

An dem mittlerweile sechsten Online-Seminar der monatlich stattfindenden Reihe nahmen wieder Theologinnen, Theologen und weitere Mitwirkende des aktuellen Studienprozesses zu lutherischen Identitäten in der Welt von heute teil. Moderiert wurde die Veranstaltung von Chad Rimmer, Programmreferent für Identität, Gemeinschaft und Bildung beim Lutherischen Weltbund.

In ihrem Einstiegsimpuls erklärte Simone Sinn, Professorin für Ökumenische Theologie am Ökumenischen Institut in Bossey (Schweiz) und Mitglied der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK), dass jede Präsenz im öffentlichen Raum eine Unterscheidung der Geister sowie die Fähigkeit erfordere, weltliche und geistliche Fragen zu trennen.

Unter Verweis auf die vor genau 500 Jahren veröffentlichte Schrift Martin Luthers „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ bekräftigte Sinn, das Evangelium sei eine „Botschaft der Befreiung“ die uns frei mache, „alle Energie und Aufmerksamkeit bedingungslos den Mitmenschen zu widmen“. Lutheranerinnen und Lutheraner machten immer wieder von sich reden als Menschen, die „die Ärmel hochkrempeln und sich mit den komplexesten, problematischsten Fragen ihrer Zeit auseinandersetzen“, führte sie aus. Es gehe ihnen darum, anderen zu dienen und „Teil des Wandlungsprozesses zu sein“.

Gemeinschaftliche Unterscheidungsprozesse

Mit Blick auf die Instrumente, die die lutherische Tradition für solche Unterscheidungsprozesse bietet, nannte sie zum einen die klassischen Hilfsmittel Bibel, Katechismus und Sakramente sowie zum anderen die modernen Quellen naturwissenschaftlicher Erkenntnis, die dabei helfen können, ein Problem besser zu verstehen. Sinn betonte die gemeinschaftliche Dimension dieser Prozesse. Es sei wichtig, diejenigen, die von der jeweiligen Problematik direkt betroffen seien, aktiv in die Diskussion einzubinden.

Eine lateinamerikanische Perspektive brachte Atahualpa Hernandez, Bischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche Kolumbiens, ein. Er beschrieb die Herausforderungen der Friedensarbeit in einem Land, das über 50 Jahre Bürgerkrieg erlitten hat, und erinnerte daran, dass in dem Referendum von 2016 mehr als 50 Prozent gegen die Ratifizierung des Friedensabkommens gestimmt hätten. Ein „christliches Land“ zu sein, biete „keine Garantie, dass wir unserer Berufung, Botschafterinnen und Botschafter des Friedens zu sein, gerecht werden“.

Hernandez berichtete, wie schwierig es sei, in einem Land Zeugnis zu geben und die Geister zu unterscheiden, wo die katholische Kirche nach wie vor „bevorzugt behandelt“ werde und wo Evangelische lutherischer und anderer Tradition darum rängen, sich von rasant wachsenden Kirchen abzugrenzen, die ein Wohlstandsevangelium verkünden. Der Schlüssel dazu ist nach seiner Ansicht, die eigene Theologie „praktisch zu verkörpern“, also die Gaben der Glaubenden in den Dienst jener Menschen zu stellen, die von Gewalt und Konflikten am schwersten betroffen seien.

Kontinuität und Veränderung

Sinn informierte über die Arbeit des ÖRK, der 2013 ein erstes Dokument zur Auseinandersetzung mit ethisch-moralischen Fragen vorgelegt hat. Aktuell stehe die Arbeit an einer zweiten Publikation vor dem Abschluss, in der es um Kontinuität und Veränderung gehe. „Sobald sich die Kirche an die Seite von Menschen stellt, die Diskriminierung erfahren, kann es passieren, dass sie daraus Schlüsse zieht, mit denen sich andere schwertun“, stellte sie fest und verwies auf historische Entwicklungen der kirchlichen Lehre zu Fragen wie Sklaverei, Apartheid, Krieg und Frieden sowie die aktuellen Kontroversen bezüglich der Teilhabe der LGBTQI-Community.

Sinn betonte, solche Klärungsprozesse bräuchten Zeit. Die Kirchen müssten vor Ort und auf nationaler Ebene Räume bieten, in denen sich Menschen austauschen könnten. „Im christlichen Leben geht es nicht um die Umsetzung ethisch-moralischer Normen allein, sondern um die liebevolle Zuwendung zu den Schwächsten.“

Hernandez stellte fest, am wirksamsten sei das Zeugnis der Kirche, wenn sie sich an die Seite derjenigen stelle, die sich um Dialog und Versöhnung bemühten. Was den Umgang mit Gewalt betreffe, „halten wir uns nicht für besser als andere und meinen, wir hätten die Antworten“, vielmehr stünden auch lutherische Glaubende in einem Lernprozess und bemühten sich, „aus Liebe erwachsende Lösungen“ zu entwickeln.

Das kolumbianische Kirchenoberhaupt schloss mit einem konkreten Beispiel für Versöhnung, das er am ersten Adventssonntag miterlebte. Ehemalige Angehörige der Guerilla und Indigene hatten sich zusammengefunden und über ihre jeweiligen Erfahrungen mit Leid und Konflikt ausgetauscht. Die Teilnehmenden zerbrachen als Zeichen für die Gewalt und Gebrochenheit in ihrer Gesellschaft einen Teller. Im Anschluss daran waren sie eigeladen, die Teile wieder zusammenzufügen. „Ich habe Kindern zugeschaut, wie sie dabei mitgemacht haben“, erinnerte sich Hernandez. „So etwa lässt sich kaum quantifizieren oder in einen Bericht schreiben“, ergänzte er, „aber es war ein Hoffnungszeichen.“

LWF/OCS