Völlige Gesetzlosigkeit

10 März 2017
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Die 17-jährige Amina wurde auf ihrer Flucht aus dem Südsudan angegriffen. Inzwischen wird sie vom Lutherischen Weltbund im Flüchtlingslager Palorinya in Norduganda betreut. Fotos: LWB/C. Kästner

Die 17-jährige Amina wurde auf ihrer Flucht aus dem Südsudan angegriffen. Inzwischen wird sie vom Lutherischen Weltbund im Flüchtlingslager Palorinya in Norduganda betreut. Fotos: LWB/C. Kästner

LWB unterstützt Überlebende sexueller Gewalt im Südsudan

MOYO, Uganda/GENF (LWI) – Amina* lag unter einer Palme, als ein Sozialarbeiter des Lutherischen Weltbundes (LWB) sie fand. Die junge Frau hatte sich mit Palmblättern zugedeckt, nachdem sie tagelang vom Südsudan bis nach Uganda gelaufen war. Als sie das Auffangzentrum in Norduganda erreicht hatte, verließen sie schließlich die letzten Kräfte.

„Sie sah blass, krank und müde aus. Als wir ihr Hilfe anboten, zögerte sie nicht“, erzählt Annet Nansubuga, eine LWB-Sozialarbeiterin, die sich um Opfer sexueller Gewalt kümmert. Amina wurde zur Untersuchung ins Gesundheitszentrum des Flüchtlingslagers Palorinya gebracht, wo sie positiv auf Malaria und negativ auf HIV/Aids getestet wurde. Zudem wurde festgestellt, dass Amina im dritten Monat schwanger war, und dass sie auf ihrer Flucht aus dem Südsudan vergewaltigt worden war. Sie hatte weder Familie noch Ehepartner, die sie hätten unterstützen können.

Mitarbeiterinnen des LWB unterstützen Überlebende sexueller Gewalt.

Die Spitze des Eisbergs

"Frauen in ihrem Zustand zu sehen, macht mich wütend", sagt Nansubuga. Die 38-jährige Frau arbeitet seit vier Jahren im Bereich sexueller Gewalt, zunächst im Südsudan und seit Dezember mit südsudanesischen Flüchtlingen in Uganda. Sie hat jeden Monat mit 20 bis 30 Fällen wie diesem zu tun – die Spitze des Eisbergs bei der Gewalt gegen Flüchtlinge, von denen die meisten weiblich sind.

Amina erlebte die Ermordung ihrer Mutter während der gewaltsamen Auseinandersetzungen in der südsudanesischen Hauptstadt Juba. „Das ist alles auf einem Marktplatz unter freiem Himmel passiert. Wir sind dorthin gegangen, um Essen zu kaufen. Ich sah, wie meine Mutter ihren letzten Atemzug tat, nachdem sie niedergeschossen worden war. An diesem Tag wurden so viele Menschen umgebracht", erinnert sie sich.

Eine Mutter und ihre Tochter auf ihrem Weg zur Aufnahmestelle. In Palorinya sind 89 Prozent der Flüchtlinge Frauen und Kinder.

Danach war sie sich selbst überlassen. „Ich hatte niemanden, der mich unterstützte. Ich holte Wasser und half den Leuten für Geld und Essen beim Putzen", sagt sie. Amina schweigt über das, was ihr in Juba passiert ist. Doch sie war bereits schwanger, als sie sich einer Gruppe von Nachbarn anschloss, die die Stadt verließen, um nach Uganda zu fliehen. Auf dem Weg dorthin wurde sie angegriffen und vergewaltigt.

Systematischer Missbrauch

Seit Beginn der Krise im Südsudan im Dezember 2013 berichten Menschenrechtsorganisationen von Massenvergewaltigungen durch sämtliche Konfliktparteien. Laut einem Bericht der Mission der Vereinten Nationen im Südsudan, der dem UN-Menschenrechtsrat vorgelegt wurde, berichteten allein innerhalb von einer Woche im vergangenen Juli 217 Frauen von Vergewaltigungen.

Der kleine Emmanuel wurde geboren, als seine Mutter allein mit fünf kleinen Kindern auf der Flucht war.

Die Geschichten der Flüchtlinge lassen vermuten, dass diese Art der Gewalt von den Konfliktparteien eingesetzt wird, um Menschen aus strategisch wichtigen Städten zu vertreiben. Jene, die Anfang Februar dieses Jahrs in Palorinya ankamen, berichten einhellig von einer besonders schrecklichen Massenvergewaltigung und von Folter auf einem öffentlichen Marktplatz. Den Menschen wurde nahegelegt, die Stadt zu verlassen; ansonsten würde ihnen das Gleiche blühen. „Jetzt ist niemand mehr in Kajo-Keji“, sagt ein alter Mann. Nach diesem Vorfall seien alle geflohen.

Anna Nansubuga, Sozialarbeiterin des LWB, ist für die Identifizierung und Unterstützung von Überlebenden sexueller Gewalt verantwortlich.

In seiner Nähe trauert eine Gruppe von Frauen um ihre Männer, die entweder getötet oder entführt wurden. Viele Frauen in Palorinya wissen nicht, was mit ihren Ehemännern geschehen ist. Viele mussten die Ermordung von Brüdern und Vätern mit ansehen. 89 Prozent der Flüchtlinge, die aus dem Südsudan kommen, sind Frauen und Kinder. Die Flüchtlinge in Palorinya sind mehrheitlich weiblich, sehr alt oder sehr jung. Das Fehlen von Männern mittleren Alters ist ebenso augenfällig wie die Berichte über Gewalt gegen Frauen und Mädchen.

„Es herrscht völlige Gesetzlosigkeit“, sagt Nansubuga. „Frühe Verheiratung, schwangere Jugendliche und sogar Vergewaltigung werden für normal gehalten.“ Nansubuga ist überzeugt, dass viele Flüchtlinge während ihrer gefährlichen Reise durch den Busch sexuelle Gewalt erlebt haben. „Einen Großteil der Gewalt haben sie erfahren, solange sie noch im Südsudan waren“, sagt sie. Die Zahlen des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) besagen, dass jede Woche 25 Überlebende gefunden werden – und dass in den Flüchtlingslagern oder in deren Umgebung um die 10 neue Vorfälle pro Woche stattfinden.

Unterstützung der Überlebenden ist eine Herausforderung

Da täglich weiterhin hunderte von Flüchtlingen in Norduganda ankommen, ist es eine enorme Aufgabe, die Schwachen zu schützen und die Überlebenden sexueller Gewalt zu unterstützen. Amina wurde zusammen mit anderen unbegleiteten Minderjährigen untergebracht und erhält nun Essen, Kleidung und Beratung. Nansubuga, die von Amina "Tante Annet" genannt wird, sorgt dafür, dass sie jeden Tag nach ihr schauen kann. „Sie war vollkommen gebrochen und hatte ihren Lebenswillen fast verloren“, erinnert sich Nansubuga. „Es ist schwierig, so jemanden zu erleben. Aber sie verlassen sich auf mich, und ich darf ihnen nicht zeigen, wie sehr ihre Geschichten mir nahe gehen."

Inzwischen verbringt Amina ihre Tage damit, die anderen Kinder zu betreuen und in ihren Schulbüchern zu lesen, in der Hoffnung, ihren Schulabschluss nachholen zu können. „Ich will nicht mehr in den Südsudan zurückkehren. Dort habe ich nichts und niemanden mehr. Ich möchte in Uganda und in Betreuung bei Tante Annet bleiben, mein Kind bekommen und zurück zur Schule gehen", sagt sie. „Ich möchte später Krankenschwester werden und anderen Menschen das Leben retten, insbesondere Kriegsopfern."

Wenn man sie nach der Zukunft ihres Kindes fragt, antwortet sie nicht.

In den Flüchtlingssiedlungen in Adjumani und Palorinya bietet unter anderem der LWB den Flüchtlingen Schutz. Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter identifizieren Überlebende sexueller Gewalt, Menschen mit besonderen Bedürfnissen und gefährdete Kinder und sorgen dafür, dass sie angemessene Betreuung erhalten. Seit Beginn dieses Jahres nahmen 12.920 Menschen an Schulungen zur Prävention geschlechtsspezifischer Gewalt teil oder erhielten Rechtsbeistand nach einer Vergewaltigung. Der LWB hat ein Verweisungsverfahren für Überlebende in Englisch und südsudanesischem Arabisch entwickelt.

*Name zum Schutz der Person geändert

 

 

LWF/OCS