Unter Schutt begraben: Überlebende des Erdbebens von Haiti

27. Aug. 2021
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Ein persönlicher Bericht des LWB-Programmdirektors in Haiti

PORT-AU-PRINCE, Haiti/GENF (LWI) – Am Samstagmorgen, 14. August, war Prospery Raymond, Direktor des Länderprogramms des Lutherischen Weltbundes (LWB) für Haiti, in seinem Auto unterwegs, als er bemerkte, dass das Fahrzeug ins Schlingern kam. Zunächst dachte er an einen Motorschaden. Einige Sekunden später rief seine Tochter an und sagte ihm, dass diese Erschütterungen durch ein Erdbeben der Stärke 7,2 ausgelöst worden seien, das den Süden der karibischen Inselnation getroffen hatte. Der für eine humanitäre Hilfsorganisation tätige Raymond erinnerte sich sofort an das Jahr 2010, als er infolge eines anderen Erdbebens unter den Trümmern eines Hauses begraben wurde. Dieses Erdbeben kostete mehr als 200.000 Menschenleben und machte große Teile der Hauptstadt Port-au-Prince zu einem Trümmerfeld.

Elf Jahre später erinnert sich Raymond wieder an diesen Tag im Januar. Damals arbeitete er als Landesdirektor der Region Karibik für die Organisation Christian Aid und befand sich mitten in einer Videokonferenz mit Kolleginnen und Kollegen in Jamaika. „Ich spürte das erste Beben und habe mich instinktiv in eine Ecke des Raums geflüchtet“, erinnert er sich. „Ich konnte beobachten, wie die Decke auf meinen Schreibtisch krachte und wusste, dass ich erschlagen worden wäre, wenn ich dort nur wenige Sekunden länger geblieben wäre.“ Als die Wände des Büros um ihn nachgaben, war er zwei Stunden lang unter Schutt und Trümmern begraben, bevor einige Jugendliche aus der Nachbarschaft, die seine verzweifelten Hilferufe gehört hatten, ihn befreiten. 

Es war eine furchterregende Erfahrung, die auch noch lange nach der Katastrophe für Albträume sorgte. Dieses Erdbeben hat mehr als eineinhalb Millionen Menschen in weniger als einer Minute zu Obdachlosen gemacht. Im Gegensatz zu den 300.000 Schwerverletzten kam Raymond mit einigen harmlosen Blessuren davon, brauchte aber umfassende psychologische Hilfe, um die psychischen Folgen dieses Erlebnisses zu verarbeiten. Auf dieser Basis kann er sich gut in die Überlebenden des aktuellen Erdbebens hineinversetzen: „Ich kann nachvollziehen, wie sie diese Verwüstung erleben und dass sie sich fragen, wie wohl das nächste Kapitel ihres Lebens aussehen wird.“

Koordinierte Nothilfe

Auch diesmal hatte er Glück und überlebte: Zwei Tage vorher war Raymond, der aus Les Cayes stammt, auf der südwestlichen Halbinsel zu Besuch und hielt sich in einem Hotel auf, das während des Bebens dem Erdboden gleichgemacht wurde. „Beide Kirchen, in denen ich getauft und zum ersten Abendmahl gegangen bin, wurden schwer beschädigt, und das Haus meiner Großmutter wurde komplett zerstört.“ Seine eigene Familie überlebte und fand eine Notunterkunft, aber er verlor Freunde in diesem und dem Erdbeben von 2010.

Innerhalb von Minuten nach diesem neuen Erdbeben sorgte Raymond dafür, dass die Katastrophenhilfe des LWB in enger Zusammenarbeit mit der norwegischen Hilfsorganisation Norwegian Church Aid (NCA) und der Diakonie Katastrophenhilfe (DKH) der deutschen evangelischen Kirchen anlief. Die drei Organisationen arbeiten im Rahmen eines gemeinsamen Programms in Haiti zusammen, um Ressourcen gemeinsam zu nutzen und Kosten in einem Land einzusparen, das als eines der ärmsten der nördlichen Halbkugel gilt.

Der LWB ist seit 1995 in Haiti im Einsatz und unterstützt diejenigen, die von dem Erdbeben 2010 und dem Hurrikan Matthew 2016, der weite Landstriche im Südosten der Insel verwüstet hat, am stärksten getroffen wurden. In partnerschaftlicher Zusammenarbeit mit der haitianischen Regierung, örtlichen zivilgesellschaftlichen Organisationen und dem ACT Haiti-Forum sind die Schwerpunkte des Programms der Bau neuer Häuser, die bessere Vorbereitung der Menschen auf zukünftige Katastrophen, Wiederaufforstungsprojekte und die Nahrungsmittelproduktion.

Notunterkünfte, Schutz und sanitäre Grundversorgung

Da das Land mitten in einem Hurrikan-Korridor und zudem noch auf einer kontinentalen Bruchzone liegt, sind Naturkatastrophen fast vorprogrammiert. Dazu kommt, dass nach Aussage Raymonds der Klimawandel noch schlimmere Stürme und unvorhersehbare Wetterkapriolen verursacht, darunter noch mehr Dürren und Überschwemmungen. Straßen, Brücken, Schulen, Krankenhäuser und sonstige öffentliche Gebäude wurden während des letzten Erdbebens stark beschädigt, fast 2.200 Menschen verloren ihr Leben.

Acht Tage nach der Katastrophe wurden nach Aussage Raymonds weitere 24 Menschen lebend unter den Trümmern geborgen, darunter vier Kinder. „Die Region ist inzwischen von mehr als 500 Nachbeben heimgesucht worden, manche von ihnen so stark wie das Hauptbeben. Das erschwert die Arbeit der Rettungskräfte immens“, sagt er. Zwei Tage nach dem Erdbeben verursachte der Tropensturm Grace weitere Probleme für die 650.000 Menschen, die auf Nothilfe und Schutz vor den schweren Regenfällen angewiesen waren.

„Die ersten Maßnahmen bestanden darin, Informationen zu erhalten und Menschen zu zeigen, wo sie Notunterkünfte und Schutz bekamen“, fährt Raymond fort. „Jetzt brauchen wir dringend Geld, um die Wasser- und Sanitärversorgung wieder aufzubauen und um Hygiene-Sets zu verteilen“, sagt er und erinnert an den Cholera-Ausbruch, der nach dem Erdbeben von 2010 mehr als 8.000 Menschen das Leben gekostet hat. „Wir haben einen LKW mit Wasserfiltern, ein spezialisiertes WASH-Team (Trinkwasser, Sanitärversorgung und Hygiene) und Menschen, die in den am schlimmsten betroffenen Gemeinschaften im Einsatz sind, viele in entlegenen Gebirgsregionen, um dort die defekten Wasserversorgungen wieder in Gang zu bringen“, fügt er hinzu.

Die Vermeidung geschlechtsspezifischer Gewalt ist ein weiterer Teil der gemeinsamen Katastrophenhilfe, da schutzbedürftige Frauen und Mädchen nach allen Naturkatastrophen einem erhöhten Gewaltrisiko ausgesetzt sind. „Wir arbeiten daran, die Menschen über Gefahren aufzuklären, Risiken aufgrund enger körperlicher Nähe zu verringern und separate Toiletten für Frauen zu errichten“, erklärt Raymond. „Es ist ebenfalls wichtig, die Menschen für diese Problematik zu sensibilisieren und ihnen beizubringen, wie sie sich gegebenenfalls im Fall eines Falles verhalten sollten“, sagt er.

Langfristig gesehen sind dringend finanzielle Mittel erforderlich, um Häuser zu bauen und die 80.000 Wohnungen zu ersetzen, die von dem Erdbeben beschädigt oder zerstört wurden. „Einige Menschen versuchen verzweifelt, ihre Häuser wieder instandzusetzen. Sie gehen aber das Risiko ein, dass die Gebäude über ihnen zusammenstürzen“, sagt Raymond. Ein Haus zu bauen, kostet mindestens  5.000 US Dollar, aber „die gute Nachricht ist, dass wir viele Maurer nach früheren Katastrophen ausgebildet haben und jetzt auch die erforderlichen amtlichen Genehmigungen schneller bekommen“, erklärt er.

„Es kann so viel erreicht werden, wenn wir die notwendigen Ressourcen bekommen“, wiederholt Raymond und fügt hinzu, er hoffe, dass das Land und die internationale Gemeinschaft ihre Lektionen aus der Tragödie von 2010 gelernt hätten. Die eigentliche Aufgabe bestehe jetzt darin, „die Aktionen mit weniger Akteuren viel besser zu koordinieren und zu planen und örtlichen Organisationen und der haitianischen Regierung mehr Ressourcen zur Verfügung zu stellen.“

Raymond berichtet über eine starke Solidarität der haitianischen Bevölkerung untereinander, viele würden freiwillig Blut spenden, um den Verletzten zu helfen. „Ich bin selbst Blutspender, und ich habe auch andere dazu ermutigt. Es ist das Mindeste, was wir tun können, um den Bedürftigen unter die Arme zu greifen – die Bevölkerung Haitis hilft sich untereinander und verlässt sich nicht nur auf die Unterstützung anderer Staaten“, fügt er hinzu.

Trotzdem besteht nach wie vor ein großer Bedarf an finanzieller Hilfe, um Organisationen wie LWB, NCA und DKH sowohl bei der laufenden Katastrophenhilfe als auch bei der langfristigen Aufbauarbeit und der Sicherung von Lebensgrundlagen zu unterstützen. „Spenden sind wichtig für uns“, sagt Raymond, „denn sie bewirken wirklich etwas im Leben der Menschen hier.“ Im Moment „haben die Menschen Angst, und auch ich verspüre oft Angst“, sagt er abschließend. „Aber unsere Arbeit bringt den Menschen Hoffnung und Würde, gibt ihnen ihre Selbstbestimmung zurück und zeigt, wie wir unseren Glauben durch Handeln leben können.“

Von LWB/P. Hitchen. Übersetzung: Detlef Höffken, Redaktion: LWB/A. Weyermüller