Der anglikanische Theologe Paul Avis befasst sich schon seit einem halben Jahrhundert mit der Einheit christlicher Kirchen. Jetzt wurde er mit dem Harding-Meyer-Preis für Ökumene ausgezeichnet und spricht über seine Hoffnungen auf Fortschritte in der Ökumene.
Anglikanischer Theologe Paul Avis mit Harding-Meyer-Ökumenepreis ausgezeichnet
STARSBOURG, Frankreich/GENF (LWI) – Der führende anglikanische Theologe und Autor, Pfarrer Dr. Paul Avis, wurde mit dem Harding-Meyer-Ökumenepreis 2022 ausgezeichnet. Der Preis wird alle zwei Jahre vergeben, um die bahnbrechende Arbeit Meyers zur Förderung von Versöhnung zwischen gespaltenen christlichen Kirchen zu würdigen.
Die Stiftung für Ökumenische Forschung wählt die Preisträger zusammen mit dem Institut für Ökumenische Forschung in Straßburg aus, an dem Meyer von 1971 bis zu seiner Pensionierung 1994 tätig war. Bei der Bekanntgabe ihrer Entscheidung verwiesen die Jurymitglieder darauf, wie in Avis‘ aktuellem Buch „Reconciling Theolgy“ (Versöhnende Theologie) die von Meyer entwickelte Methodik weiter erforscht und ihre Anwendung vor allem in der anglikanischen Tradition weiterentwickelt werde.
Avis war früher Generalsekretär des Rats für Christliche Einheit in der Kirche von England. Im Vorwort seines Buches berichtet er, wie er den Aspekten von „Konflikt und Übereinstimmung in der Kirche“ erstmals in zwei Büchern begegnete, die er Anfang der 1970er als junger Doktorand in einem christlich-karitativen Second-Hand-Laden gefunden hatte. Er erinnert sich, dass diese beiden Bände „meine Vorstellungskraft anregten“ und „dazu beitrugen, dass ich mich gedanklich, spirituell und ökumenisch auf den Weg machte“.
Bitte erzählen Sie uns etwas über Ihre Verbindungen zum Straßburger Institut und dem Lutherischen Weltbund (LWB).
Ich hatte viel mit dem Institut zu tun und bin immer gern dorthin gegangen und habe dort auch immer gerne mit den Vertretenden des LWB zusammengearbeitet. Ich kannte Harding Meyer nicht persönlich, doch ich bin ganz begeistert von einigen seiner Grundprinzipien in der ökumenischen Theologie, vor allem vom „differenzierten Konsens“, den ich als einen bedeutenden Durchbruch betrachte.
Dieses Konzept hilft uns dabei, die Tatsache zu akzeptieren, dass man sich nicht über alles einig werden kann, sondern dass man den Punkten Priorität einräumen muss, bei denen Einigkeit besteht, und man diese als Ausgangsbasis für die Bewältigung weiterer Herausforderungen nehmen muss. Das war ausschlaggebend für die Unterzeichnung der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre 1999 zwischen Lutheranern und Katholiken, die einen bedeutenden ökumenischen Erfolg darstellt.
Das Dokument wurde inzwischen auch von den anglikanischen, methodistischen und reformierten Kirchen unterzeichnet, als sich die fünf Partner 2019 zu einer größeren Konsultation trafen. Welches Potential hat dieses multilaterale Podium Ihrer Meinung nach?
Ich denke, es hat an Schwung verloren, und das ist sehr schade. Sobald man die Übereinkunft zur Rechtfertigungslehre sozusagen in der Tasche hat, sollte man in der Lage sein, die gleiche Methode anzuwenden, um auch in anderen Bereichen Fortschritte zu erzielen, zum Beispiel um das Amtsverständnis abzuklären, was regelmäßig ein Thema in verschiedenen Dialogen ist.
Das haben die anderen Weltgemeinschaften, die sich der Gemeinsamen Erklärung anschlossen, zu ihren eigenen Bedingungen getan. Bei der Rechtfertigungslehre gab es nie formelle Unstimmigkeiten zwischen uns Anglikanern und der römisch-katholischen Kirche, deshalb bräuchten wir das Dokument nicht, aber wir wollten seine Methodik unterstützen.
Sie engagieren sich bereits seit einem halben Jahrhundert in der Ökumene – wie sehen Sie die derzeitige Phase auf dem gemeinsamen Weg zur christlichen Einheit?
Ich denke, wir sind hier gerade ein bisschen ins Stocken geraten, weil die Ressourcen begrenzt sind und die Kirchen bzw. die Weltgemeinschaften gerade mit andere Dingen befasst sind und waren. Ich glaube, dass sie den Blick auch ein bisschen zu sehr nach innen gerichtet haben – bei der anglikanischen Gemeinschaft ist das ganz sicher der Fall – und weil sie die Sache womöglich theologisch nicht so ernst nehmen, sondern vielleicht eher pragmatisch sehen. Doch wir müssen uns an das halten, was wir bereits erreicht haben und das als Ausgangspunkt für das weitere Vorankommen nehmen.
Laut manchen Betrachtungsweisen haben die mangelnden theologischen Fortschritte die Kirchen dazu verleitet, einen pragmatischeren Ansatz zu wählen, dass man gemeinsam etwas tut.
Ich würde den theologischen Ernst nicht im Gegensatz zum praktischen Handeln sehen. Dennoch glaube ich, dass letzteres von den Prinzipien des Ersteren durchdrungen und geleitet werden sollte, um zu erklären, warum wir Dinge gemeinsam tun. Ich denke, Theologie ist eine überaus praktische Disziplin. Sie sollte nicht theoretisch oder geistig abgehoben sein, sondern von allen Menschen christlichen Glaubens ausgelebt und praktiziert werden.
Manche Leute meinen, die ökumenische Bewegung habe den Blick auf ihr ursprüngliches Ziel, die volle, sichtbare Einheit aller Christinnen und Christen, verloren: stimmen Sie dem zu?
Nein, ich denke nicht, dass das stimmt. Ich bin froh, dass die letzte Lambeth-Konferenz das Ziel bekräftigte, das uns seit dem „Appell an alle Menschen christlichen Glaubens“ geleitet hat, den die anglikanischen Bischöfe vor einem Jahrhundert auf der Lambeth-Konferenz von 1920 ausgegeben haben. Nämlich das Ziel der vollen, sichtbaren Einheit der Kirche Christi. Ich denke, was die Vision und den Fortschritt auf dem Weg zum Ziel angeht, befinden uns auf dem richtigen Kurs.
Als Menschen lutherischen und anglikanischen Glaubens vieler Länder haben wir bereits durch die Einigung bei der Ordination von Frauen zum Pfarramt Einheit erzielt, oder?
Ja, und ich freue mich sehr über diese Vereinbarungen zur kirchlichen bzw. „vollen“ Gemeinschaft, auch wenn ich glaube, dass das noch nicht das Ende eines Wegs ist, sondern etwas, in das wir immer mehr „hineinwachsen“ können. Für uns in der Kirche von England gilt die Porvoo-Vereinbarung, das heißt, es gibt eine gegenseitige Anerkennung von Amt und Sakramenten. Das hat sich als sehr fruchtbar erwiesen, und ich möchte sehen, dass es weiter an Kraft gewinnt.
Trotzdem kann es doch oft schwer sein, eine neue Generation von Ökumenikerinnen und Ökumenikern zu ermutigen, die vielleicht die Hoffnung auf einen Fortschritt aufgegeben haben, der in früheren Jahrzehnten deutlicher erkennbar war?
Ich denke, man sieht schon einen Fortschritt, wenn man an den richtigen Stellen schaut. In England wäre das wohl hauptsächlich auf lokaler Ebene, vor allem zum Beispiel zwischen methodistischen und anglikanischen Menschen, sowie unsere fortwährende Interaktion mit den lutherischen Kirchen. Immer wenn sich Diözesen auf Partnerschaften mit verschiedenen Kirchen einließen, hat sich das als sehr fruchtbar erwiesen, und ich möchte mehr Menschen dazu ermuntern.
Doch ausschlaggebend ist die theologische Arbeit, und das versuche ich in meinem Buch, auf das sich der Harding-Meyer-Ökumenepreis bezieht, zu zeigen. Wir müssen unsere Vision von Einheit wieder auf Hochglanz bringen und verstehen, wie die Kirche Christi durch unsere Uneinigkeit in Stücke zerbricht. Wenn wir verstehen, was Christus für seine Kirche wollte und was er damit bezweckte, und dass sich seine Kirche bestimmt nicht im aktuellen jämmerlichen und gespaltenen Zustand befinden sollte, dann veranlasst mich das, und ich hoffe, auch andere, alles daran zu setzen, um diese Spaltungen zu überwinden.
Letzte Frage: sehen Sie die Vorstellung einer aufgeschlossenen Ökumene als Schlüssel zu künftigen Übereinkünften zwischen den verschiedenen Kirchen?
Ich habe das immer als einen fruchtbaren Weg für alle Kirchen gesehen, sowohl an der Spitze als auch auf lokaler Ebene. Wir müssen uns fragen, was wir von andern als bedürftige Menschen lernen können – das ist der Geist, der in sämtlichen ökumenischen Beziehungen steckt. Aufgeschlossenheit ist der Schlüssel zu einer erfolgreichen Ökumene und dazu ist ein demütiger, lernbereiter Geist unerlässlich.
Ich denke, es liegt einigen Menschen am Herzen, die Trennung zu überwinden und die Menschen zusammenzubringen. Ich habe mich immer von meinem Herzen leiten lassen, es ist meine Motivation für die „Kopfarbeit“, mit der ich versuche, einen Beitrag zu dieser lang ersehnten Versöhnung der christlichen Theologien und Menschen zu leisten.
Pfarrer Dr. Paul Avis ist Honorarprofessor an der Schule für Religionswissenschaften der Universität von Edinburgh. Sein neuestes Buch „Reconciling Theology“ erschien im März 2022 bei SCM Press in London. Der nächste Harding-Meyer-Preis wird 2024 vergeben. Bewerbungen können vom 1. Oktober 2023 bis zum 29. Februar 2021 unter der folgenden Adresse eingereicht werden: Institute for Ecumenical Research, 8 rue Gustave-Klotz, F - 67000 Strasbourg ([email protected])