Interview mit dem Theologen Kenneth Mtata, Koordinator des LWB-Hermeneutikprozesses
GENF, 22. August 2016 (LWI) – Der Theologe und Pastor Dr. Kenneth Mtata aus Simbabwe koordiniert seit 2010 Studienprozesse zur Bibelauslegung im Lutherischen Weltbund (LWB) und bereitet sich nun auf eine neue Aufgabe bei den Kirchen in seiner Heimat vor. Mit der Lutherischen Welt-Information sprach er über den Hermeneutikprozess des LWB und dessen Beitrag zu Erneuerung und Verwandlung in der Kirche.
Was veranlasste den LWB zur Einleitung des Studienprozesses zur Hermeneutik und weshalb ist dieser von Bedeutung?
Der ursprüngliche Anstoss zu einem neuen Blick auf die Auslegung der Bibel im Leben der Gemeinschaft entstand daraus, dass sich der Lutherische Weltbund als Gemeinschaft von Kirchen, die ihre Geschichte bis zur Reformation zurückverfolgen können, der Heiligen Schrift besonders verpflichtet fühlt. Die Reformation im 16. Jahrhundert ging von einer neuen Lebenskraft der Kirche aus, die sich aus der Auslegung der Heiligen Schrift basierend auf gewissen befreienden Perspektiven ergab. Die Bewegung zur Reformation der Kirche führte zur Übersetzung der Heiligen Schrift in die Volkssprache und machte so die Bibel für alle Menschen zugänglich. Als der LWB mit den Vorbereitungen zur Begehung des 500. Reformationsjubiläums begann, erwies sich die Auslegung der Bibel daher als zentraler Punkt.
Der zweite Grund für die Aufnahme des Hermeneutikprozesses bestand im Wunsch, einige der sich abzeichnenden ethischen Herausforderungen anzugehen, die die Einheit der Gemeinschaft bedrohten. Es ging dabei nicht darum, die „richtige Auslegung“ zu finden, sondern Wege zu erkunden, die den Lutheranerinnen und Lutheranern innerhalb derselben Familie ermöglichen würden, sich auf zivilisierte Art und Weise mit unterschiedlichen Auslegungen auseinanderzusetzen.
Wurden diese Fragen nicht bereits im Rahmen anderer Studienprozesse behandelt?
Diese Anliegen hätten tatsächlich in anderen Studien angegangen werden können. So gab es frühere Studien, zum Beispiel „Witnessing to God's faithfulness: Issues of Biblical Authority“, LWB-Studien 02/2006, in denen die Rolle der Bibel im Rahmen der ethischen Entscheidungsfindung in der Kirche angesprochen wurde. Was den Hermeneutikprozess aber so einzigartig machte, war der bewusste Versuch, die Beziehung zwischen dem Bibeltext, dem lutherischen Erbe als Perspektive für die Auslegung und den praktischen Erfahrungen der Gemeinschaften beim Bibellesen zu verstehen. Der Prozess wollte diese dreipolige Beziehung des Sinngebens – den Text, die Tradition und den Kontext der Leserinnen und Leser – vor dem Hintergrund des Dialogs in der Gemeinschaft bekräftigen und verfeinern.
Konnte in einer globalen und vielfältigen Gemeinschaft wie dem LWB eine mehr oder weniger ausgewogene Beteiligung erreicht werden?
Die Vielfalt der Teilnehmenden zeigte sich nicht nur in ihrer geografischen Herkunft. Wir versuchten, dafür zu sorgen, dass beide Geschlechter ausgewogen vertreten waren, ebenso wie junge und erfahrenere Gelehrte. Vielfältig waren aber auch die verschiedenen Theologie-Disziplinen der Studiengruppenmitglieder, die eingeladenen Teilnehmenden und die Arbeitsmethoden. Wir bemühten uns um Teilnehmende aus den unterschiedlichen theologischen Disziplinen. Wir zogen Lehren aus den Unzulänglichkeiten der ersten Konsultationen und luden zu späteren Gesprächen auch Teilnehmende aus anderen christlichen Konfessionen und für die Konsultation über das Matthäusevangelium jüdische Gelehrte ein.
„In der Kraft der Bibel steckte die Energie der Reformation. Daher bleibt sie auch der Antrieb für die kontinuierliche Erneuerung der Kirche in der heutigen Zeit.“ Pastor Dr. Kenneth Mtata, LWB-Studienreferent für Lutherische Theologie und Praxis
Welche Aspekte hoben sich in der fünfjährigen Auseinandersetzung mit dem Johannesevangelium, dem Psalter, dem Matthäusevangelium und zum Schluss den Paulusbriefen besonders hervor?
Das Studium des Johannesevangeliums war der erste Studienprozess, der zu einer Veröffentlichung führte: „Du hast Worte des ewigen Lebens. Transformative Auslegungen des Johannesevangeliums aus lutherischer Sicht“. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer kannten sich nicht und die Methodologie war noch nicht ausgereift. Während dieser Konsultation zeigten sich unendlich viele Unterschiede, als die Teilnehmenden mit unterschiedlichem Hintergrund ihre Ansichten darlegten. Aber bei derselben Gelegenheit wurde auch das Konzept des Kontexts, mit all seinen komplexen Facetten, herausgearbeitet.
Das Studium des Psalters ermöglichte den Teilnehmenden, aufzuzeigen, wie die Erfahrung Gottes in der Unbeständigkeit des Lebens über Raum und Zeit hinweg Gemeinsamkeiten aufweisen und mit anderen geteilt werden kann. Wenn man untersucht, wie der Psalmist über Gott spricht, erkennt man darin die existenziellen Herausforderungen, vor denen wir auch heute stehen. Dieser Prozess führte ebenfalls zu einer Veröffentlichung, mit dem Titel „Das Lied des Herrn in der Fremde singen. Psalmen in zeitgenössischer lutherischer Interpretation.
Die Veröffentlichung der Studie über das Matthäusevangelium stützte sich auf den Missionsbefehl in Kapitel 28 des Evangeliums, aber auch auf das wiederkehrende Thema des Aufrufs an alle Menschen: „Für alle Völker. Lutherische Hermeneutik und das Matthäusevangelium“. Unsere Aussprachen über das Matthäusevangelium boten den Lutheranerinnen und Lutheranern Gelegenheit, das Gesetz genau so zu verstehen, wie Luther selbst es getan hatte. Obwohl man Paulus als „ersten Lutheraner“ betrachten könnte, zeigte sich deutlich, wie viele Kontroversen er mit seiner manchmal direkten, aber auch scheinbaren Inkohärenz bei gewissen Themen entstehen lässt. Wenn Paulus zum Beispiel sagt „Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus“ (Gal 3,28), wie kann er gleichzeitig behaupten, Frauen dürften gewisse Ämter in der Kirche nicht ausüben? Wir kamen zum Schluss, dass alle Texte von Paulus mit der ganzen Kirche zusammen gelesen werden müssen, damit man die Gesamtbotschaft des Evangeliums bei Paulus und in der Heiligen Schrift hört.
Die lutherischen und auch andere Kirchen bereiten sich darauf vor, 2017 das 500. Reformationsgedenken zu begehen. Inwiefern leistet der Hermeneutikprozess einen Beitrag zu diesem Jubiläum?
Beim 500. Gedenken des LWB an die Reformation sollte nebst anderen Schwerpunkten die Heiligen Schrift als äusserst wichtig erscheinen. In der Kraft der Bibel steckte die Energie der Reformation. Daher bleibt sie auch der Antrieb für die kontinuierliche Erneuerung der Kirche in der heutigen Zeit. In Zukunft könnten weitere Dimensionen der Interpretation interessante Ausgangspunkte bieten, so etwa die Rolle der Konfessionen. Die Heilige Schrift muss die Kirche ermutigen, inmitten von Tod und Zerstreuung Leben und Einheit zu sprechen. Dieses Bekennen des Glaubens sollte der Kirche Stabilität geben und sie verewigen, sie aber nicht in einem Konfessionalismus erstarren lassen, dem der Geist der ständigen Erneuerung fehlt. Ohne die konfessionelle Integrität jedoch droht die Kirche in eine Jagd nach den verlockenden Forderungen unterschiedlicher Schattierungen und Modeerscheinungen abzugleiten.
Wie kann die gute Nachricht des Evangeliums der Kirche den Mut schenken, in die heutige Welt Leben und Einheit hineinzusprechen?
Die Kraft der Heiligen Schrift liegt darin, dass sie eine alternative Sprache für die Realität bietet. In der Bibel treffen wir auf eine Neudefinition des Status, wenn wir lesen „So soll es nicht sein unter euch; sondern wer unter euch gross sein will, der sei euer Diener“ (Mt 20,26). Auch Erfolg wird in der Bibel neu ausgelegt: „Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch das alles zufallen“ (Mt 6,33). Ebenso Macht, wenn Paulus sagt: „Auch ich, liebe Brüder, als ich zu euch kam, kam ich nicht mit hohen Worten und hoher Weisheit, euch das Geheimnis Gottes zu verkündigen. Denn ich hielt es für richtig, unter euch nichts zu wissen als allein Jesus Christus, den Gekreuzigten. Und ich war bei euch in Schwachheit und in Furcht und mit grossem Zittern; und mein Wort und meine Predigt geschahen nicht mit überredenden Worten menschlicher Weisheit, sondern in Erweisung des Geistes und der Kraft, damit euer Glaube nicht stehe auf Menschenweisheit, sondern auf Gottes Kraft“ (1. Kor 2,1-5).
Wie hat Ihre Führung des LWB-Hermeneutikprozesses Sie auf Ihre neue Aufgabe als Generalsekretär des Kirchenrates von Simbabwe vorbereitet?
Im Hermeneutikprozess habe ich gelernt, dass sich die Reaktion der Kirche gegenüber der Welt auch in Zukunft an der Heiligen Schrift ausrichten muss. Das schöpferische Wort Gottes schafft aus hoffnungslosen Situationen neue Realitäten, wenn es im Leben derer wirkt, die daran glauben und die versuchen, danach zu leben. Ausserdem werden Gottes Geheimnisse nur dann verständlicher, wenn wir sie gemeinsam mit anderen zu erkennen versuchen. Für mich liegt der Schlüssel zur Verwandlung darin, dass sich Menschen mit unterschiedlichen Gaben und unterschiedlicher Herkunft zusammenschliessen.