Gespräch mit Allan Calma, Koordinator der humanitären Hilfe beim LWB
(LWI) – Mehr als sieben Millionen Menschen aus Venezuela haben ihre Heimat bereits verlassen. Politische Instabilität, unhaltbare wirtschaftliche Zustände und fehlende soziale Dienste treiben nach wie vor zahlreiche Menschen aus dem Land. Gleichwohl gibt es erste Hinweise darauf, dass einige Menschen auch wieder zurückkehren.
Das LWB-Länderprogramm in Kolumbien-Venezuela unterstützt Migranten und Migrantinnen, die in Kolumbien unterwegs sind, und besonders gefährdete Gemeinschaften in Venezuela und Kolumbien. Allan Calma, der die humanitäre Arbeit in der Zentrale des LWB-Weltdienstes in Genf koordiniert, hat das Land vor kurzem besucht. Im Interview fasst er seine Eindrücke zusammen, berichtet darüber, was die Menschen dort am dringendsten brauchen, und erklärt, warum es immer noch einen Grund zur Hoffnung gibt.
Welchen Eindruck haben Sie von Venezuela?
Venezuela befindet sich in einer überaus schwierigen sozioökonomischen Lage. Für einige Güter und Dienstleistungen sind die Preise so hoch wie in der Schweiz. Gleichzeitig reichen die Löhne und Gehälter nicht einmal aus, um die Miete zu bezahlen. Ich weiß nicht, wie die meisten Menschen dort überleben; mit dem Lohn, den sie normalerweise verdienen, kann man unmöglich seinen Lebensunterhalt bestreiten.
Es gibt so gut wie keine sozialen Dienstleistungen. Wenn Sie sich in einem öffentlichen Krankenhaus behandeln lassen wollen, müssen Sie ihre eigenen Medikamente und die erforderlichen Materialien für eine Behandlung selbst mitbringen. Wer für eine Operation ins Krankenhaus geht, muss vorher in einer Apotheke die erforderlichen Medikamente und Artikel wie z. B. Lanzetten und Wundverbände selbst kaufen, da diese in den Krankenhäusern nicht verfügbar sind. Trinkwasser ist rationiert, die Menschen haben nur vier Tage in der Woche eine funktionierende Wasserversorgung. An den verbleibenden drei Tagen nutzen sie entweder das Wasser, das sie eingespart haben, oder kaufen zusätzliche Kontingente zu einem überhöhten Preis. Das ist die Situation in der Hauptstadt. Sie können sich also vorstellen, wie die Lage in den ländlichen Gebieten ist.
Auch das Bildungssystem befindet sich in einem sehr schlechten Zustand. Wir sind aufs Land gefahren und haben die Delta-Region besucht. Die Schulgebäude sind in einem furchtbaren baulichen Zustand, die Menschen nutzen deshalb andere Gebäude, zum Beispiel Kirchen. Oftmals gibt es dort, wo sich die Schulen befinden, keine Lehrkräfte, da die Gehälter niedrig sind, und in einigen Fällen hat die Kommunalverwaltung dafür einfach kein Geld. Einige NGO übernehmen stattdessen die Bezahlung, aber wie wir in anderen humanitären Kontexten feststellen konnten, ist das eine heikle Angelegenheit, denn Bildung muss ausschließlich in der Verantwortung der Regierung liegen. Die Lage ist kritisch.
Was unternimmt der LWB in Venezuela?
In Venezuela arbeiten wir sowohl in der Provinz als auch in den Städten und in Gebieten, die von der Krise am stärksten betroffen sind. Ein Teil unserer Tätigkeit besteht darin, indigene Bevölkerungsgruppen zu unterstützen. Sie leben am Fluss im Delta, man kann nur mit dem Boot dorthin fahren. Die meisten indigenen Familien in der Gemeinde Pedernales im Delta haben kein festes Einkommen, sondern erhalten eine staatliche Unterstützung in Höhe von 10 Dollar im Monat. Das Team hat uns erzählt, dass die Familien dort nur eine Mahlzeit am Tag zu sich nehmen und sich keine eiweißreiche Nahrung wie zum Beispiel Fleisch leisten können Ein Liter Wasser kostet bereits 2,50 US-Dollar.
Gemeinsam mit dem Welternährungsprogramm (WFP) der Vereinten Nationen stellen wir in den Schulen kostenlose Mahlzeiten zur Verfügung. Diese Maßnahme sorgt dafür, dass Schüler und Schülerinnen regelmäßig zum Unterricht kommen und sich besser ernähren. Gleichzeitig geben wir auch Lebensmittelpakete und Trinkwasser an die örtliche Gemeinschaft aus.
Wir arbeiten ebenfalls mit Menschen zusammen, die wieder in ihre Heimat zurückkehren. Es gibt viele, die das Land verlassen haben. Nach und nach kommen einige von ihnen zurück, da sie Anzeichen für eine wirtschaftliche Erholung festgestellt haben. Einige Mitglieder der internationalen Gemeinschaft sehen ein Ende der Migrationskrise und dass die Menschen wieder nach Venezuela zurückkehren. Diese Krise ist aber nicht vorbei. Sie geht weiter, und das bedeutet für die Gemeinschaften in Venezuela eine erhebliche Belastung.