Eine Gemüsekiste als Wiege

30. Jun. 2015
Kamla Edno und ihr fünf Tage altes Baby, Shahla Edno, im Flüchtlingscamp Berseve 1 in der Nähe der nordirakischen Stadt Zakho im Dezember 2014. Das Baby liegt in einer Kunststoffkiste für Gemüse. Foto: LWB/S. Cox

Kamla Edno und ihr fünf Tage altes Baby, Shahla Edno, im Flüchtlingscamp Berseve 1 in der Nähe der nordirakischen Stadt Zakho im Dezember 2014. Das Baby liegt in einer Kunststoffkiste für Gemüse. Foto: LWB/S. Cox

Dohuk, Irak/Genf, 30. Juni 2015 (LWI) – Shahla Ednos Leben begann in einer Kunststoffkiste. Als sie im Dezember 2014 im Flüchtlingslager Berseve 1 in der Nähe der Stadt Zakho im Nordirak geboren wurde, hatte ihre Mutter Kamla weder ein richtiges Babybett noch all die anderen Sachen, mit denen ein Neugeborenes im Normalfall im Übermass beschenkt wird – Stofftiere, weiche Decken, ein Kinderwagen, Windeln und Babysachen. Die Familie Edno gehört zu den Binnenvertriebenen im Norden Iraks.

Terror und Konflikte haben sie dazu gezwungen, ihre Heimat zu verlassen und Flüchtlinge im eigenen Land zu werden. Auf der Flucht vor den Truppen des Islamischen Staats musste die im vierten Monat schwangere Kamla Edno zu Fuss mit ihrer neunköpfigen Familie fliehen und suchte zunächst sieben Tage im Sinjar-Gebirge Schutz. Danach erreichten sie nach einem zweitägigen Leidensweg die syrische Grenze.  

Das Bein einer Spielzugpuppe

Später wurden sie mit dem Auto in die Stadt Zakho gebracht. Monatelang lebte die Familie im Betongerüst eines halbfertigen Hauses, bevor sie weiter in das für Flüchtlingslager Berseve 1gebracht wurden – einen Monat vor Shahlas Geburt. Das Baby liegt jetzt in einer Kunststoffkiste, in der normalerweise Gemüse transportiert wird.  

Das Zakho-Flüchtlingslager ist einer der Orte, an dem der Lutherische Weltbund (LWB) die Wasserversorgung sicherstellt. In den Aussenbezirken des Lagers wird aus zwei vom LWB niedergebrachten Bohrungen Wasser für das kommunale Leitungsnetz gefördert, mit dem 12.000 BewohnerInnen des Camps versorgt werden. Das  Wasser wird für Toilettenanlagen, Duschen und Küchenblocks genutzt, so dass die Familien im Lager trotz aller widrigen Umstände ein Mindestmass an Würde bewahren können. Das frische, saubere Wasser sichert das schiere Überleben einer Familie, die alles hinter sich lassen musste.

Shahla ist die jüngste von acht Geschwistern. Kamlas ältestes Kind ist 14 Jahre alt, die gesamte Kinderschar spielt zu ihren Füssen, während sie ihre Geschichte erzählt. Als Spielzeug muss alles herhalten, was zu finden ist – oft nicht mehr als das Bein einer Puppe. Kamlas Ehemann ist oft unterwegs auf der Suche nach Arbeit. Es ist kaum möglich, genug Essen für die gesamte Familie zu besorgen.

Angst um Freunde und Verwandte

Es koste Kamla unendlich viel Mühe, zu lächeln. „Wir sind zutiefst gedemütigt“, berichtet sie. Das Leben im Camp ist schwierig, das Lager völlig überfüllt. Nässe steigt von unten auf und durchfeuchtet den Boden, die Familie muss die ganze Nacht die Heizung laufen lassen, damit sich auf den Innenwänden des Zeltes kein Kondenswasser bildet. An warmen Tagen staut sich die Hitze im Zelt, während die Temperaturen nachts stark sinken. „Wir wären lieber in den nicht unfertigen Gebäuden geblieben, aber die Behörden haben darauf bestanden, dass wir in das Lager ziehen“, sagt Kamla. 

Ihre Schwester Mayasa Edno, ein Teenager, wünscht sich ihre Schule zurück, aber im Umkreis von Kilometern gibt es keine Sekundarschule. Sie vermisst ihre Freunde, Freundinnen und Verwandte, um deren Leben sie fürchtet. Sie weiss, dass Freunde in Sinjar entführt worden sind, hat aber keine Ahnung, ob sie noch leben.

„Wir haben uns nicht für dieses Leben entschieden“, sagt Kamla Edno. „Welche Zukunft erwartet uns jetzt?“

2,5 Millionen Menschen im Irak sind bisher entwurzelt worden, seitdem die Milizen des islamischen Staates 2014 angefangen haben, die Bevölkerung zu terrorisieren. Während fast 2 Millionen Menschen wie die Familie Edno nach wie vor in Camps für Binnenvertriebene überall im Land leben, gibt es inzwischen 500.000 Flüchtlinge in Ländern ausserhalb des Iraks. Einige Menschen mussten seit Ausbruch des Konflikts 2014 mehrmals fliehen. Die aktuelle Vertriebenenkrise im Irak ist die grösste Flüchtlingskatastrophe im Nahen Osten.