(LWI) – „End it now“ („Schluss damit, jetzt“), so lautet der Titel eines drastischen, erschreckenden, aber wirklichkeitsnahen Videos. In der Schlussszene schreit ein fünfjähriges Mädchen hilflos, während die „Mütter und Tanten“, denen es anvertraut ist, seine Glieder auf eine Matte am Boden drücken, so dass es sich nicht bewegen kann. Den Frauen dieser ethnischen Gruppe fällt die Aufgabe zu, sicherzustellen, dass an dem Mädchen der wichtige Übergangsritus der weiblichen Genitalverstümmelung vollzogen wird. Die Beschneiderin verwendet eine Rasierklinge und vernäht danach an dem wimmernden Kind die Wunde. Das Mädchen wird in ein weites Gewand gekleidet und auf eine dünne Matratze gebettet.
„Ich habe das Gefühl, ich habe all die Mädchen und Frauen im Stich gelassen, die diese schreckliche Erfahrung durchgemacht haben, weil ich nicht wusste, was vor sich ging“, erklärte Pfarrerin Judith Mbabazi aus Uganda, eine der FrauenreferentInnen der Mitgliedskirchen der Lutherischen Gemeinschaft in Zentral- und Ostafrika (LUCCEA), nachdem sie den Film gesehen hatte.
Das Video, das über die Genitalverstümmelung aufklären soll, wurde im Rahmen eines LUCCEA-Workshops gezeigt, der vom 22. bis 28. Februar im kenianischen Nairobi stattfand. Miriam Daniel Zere von der Evangelisch-Lutherischen Kirche Eritreas ihrerseits kennt die in dem Film dargestellte Praxis: in ihrem Land werden fast 90 Prozent aller Mädchen an den Genitalien verstümmelt. „Das ist in meinem Land sehr weit verbreitet. Ich habe lange Jahre als Krankenschwester und Hebamme gearbeitet und habe viele Frauen betreut, die verstümmelt worden waren.“
Über 200 Millionen Opfer
Gegenwärtig gibt es nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation [http://www.euro.who.int/de/home] über 200 Millionen Opfer in 30 Ländern Afrikas, des Nahen Ostens und Asiens. Genitalverstümmelung bedeutet die bewusste Veränderung bzw. Verletzung der weiblichen Genitalien, ohne medizinische Begründung sowie ohne gesundheitlichen Nutzen für Mädchen und Frauen, und sie verletzt ihre Menschenrechte.
Eine Genitalverstümmelung kann schwere Blutungen und Probleme beim Wasserlassen zur Folge haben, im weiteren Verlauf kommen zu den möglichen Komplikationen noch Infektionen sowie Probleme bei der Entbindung und eine höhere Sterblichkeit der Neugeborenen hinzu.
In Kenia, wo die Genitalverstümmelung gesetzlich verboten ist, wird sie trotzdem weiterhin „von allen 42 ethnischen Gruppen mit Ausnahme von drei“ praktiziert, stellte Judith Nyaata von der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Kenia fest. „Manchmal werden Frauen, die dem Ritual in ihrer Kindheit entgangen sind, kurz vor der Geburt verstümmelt, wenn die Hebamme feststellt, dass das bisher nicht passiert war“, ergänzt sie.
„Manchmal werden Frauen, die dem Ritual in ihrer Kindheit entgangen sind, kurz vor der Geburt verstümmelt, wenn die Hebamme feststellt, dass das bisher nicht passiert war.“ – Judith Nyaata
Solidarität mit den Opfern
In den Ländern Ost- und Zentralafrikas ist die Genitalverstümmelung unterschiedlich stark verbreitet. Unter den bei dem Workshop vertretenen Staaten liegt in Eritrea die Quote mit 89 Prozent am höchsten, gefolgt von Äthiopien (74%), Kenia (27%), Tansania (15%) und Uganda (1%). In Madagaskar und Ruanda liegt der Anteil von verstümmelten Frauen und Mädchen unter einem Prozent. Weitere Teilnehmende des Workshops kamen aus der Demokratischen Republik Kongo.
Bei der einheimischen Bevölkerung Madagaskars gibt es diese Praktiken oder vergleichbare Riten für Mädchen nicht. „Ich sehe hier zum ersten Mal, worum es da geht“, stellte Totomare Femanjafy von der Madagassischen Lutherischen Kirche fest.
Neuer Ansatz zum Kampf gegen Genitalverstümmelung
Der Workshop hatte die Aufgabe, MultiplikatorInnen auszubilden. Er vermittelte zu diesem Zweck allerdings nicht mehr den jahrzehntelang verfolgten Ansatz, von Dorf zu Dorf zu gehen und an die Mütter, die Mädchen selbst und die Führungsverantwortlichen zu appellieren, die Genitalverstümmelung zu beenden, ohne ihnen dabei jedoch drastisch die negativen Folgen für das Leben der Betroffenen vor Augen zu führen.
„Heute geht es darum, eine neue Strategie zu verfolgen, die das ganze Gemeinwesen bei der Analyse der Problematik insgesamt einbezieht und berücksichtigt, welche Verbindungen es zu Aspekten gibt, die früher nicht zu dem Problem in Bezug gesetzt wurden“, erläuterte Dr. Grace Okong’o, die gemeinsam mit anderen den Workshop leitete. „Das wird Kirchen und Gemeinwesen dabei helfen, konkrete Aktionspläne zur Beendigung dieser Praktik zu entwickeln.“
Okong’o ist Expertin für Genderfragen und stellte gemeinsam mit einem Team der Hope Foundation for African Women den Teilnehmenden Strategien vor, wie in Gemeinwesen das Gespräch über relevante Probleme wie die Genitalverstümmelung gesucht und praktische Schritte angestossen werden können.
Advocacy durch den LWB
Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern unterstützte den Workshop, an dem 30 Personen aus neun Ländern teilnahmen. Der Lutherische Weltbund (LWB) engagiert sich im Rahmen seiner Menschenrechtsarbeit gezielt gegen die weibliche Genitalverstümmelung, unter Beteiligung der Gebietsreferate sowie der Referate mit globalem Aufgabenbereich, insbesondere des Programms Frauen in Kirche und Gesellschaft.
Die FrauenreferentInnen erklärten sich solidarisch mit allen Frauen, denen weltweit durch die Genitalverstümmelung grosses Leid zugefügt wird. Sie verpflichteten sich, den vom Workshop ausgearbeiteten Aktionsplan der Leitung von LUCCEA vorzulegen. Der Gemeinschaft gehören acht LWB-Mitgliedskirchen sowie die ugandische Kirche an, die bisher nicht Mitglied im LWB ist.
(Mit Beiträgen von Afram Pete, dem regionalen Koordinator des afrikanischen lutherischen Kommunikations- und Informationsnetzwerks ALCINET.)